„Design“, so Lutz Dietzold, „ist heute in vielen Fällen ganz selbstverständlich in den Unternehmen verankert.“ Im zweiten Teil unseres Interviews spricht der Geschäftsführer des Rat für Formgebung darüber, was sich im Verhältnis von Design und Industrie verändert hat, weshalb Klassiker auch in disruptiven Zeiten erfolgreich sind, warum das Vertrauen in eine Marke immer wichtiger wird – und welche neuen Perspektiven junge Designer*innen entwickeln.
Interview: Thomas Wagner
Herr Dietzold, wenn wir die ganz große Perspektive wählen, hört man oft: Design can save the world. Ist der Anspruch zu hoch? Was stimmt daran und was ist Selbstüberschätzung?
Naja, (lacht), das ist schon sehr hochgegriffen. Manchmal dient der Satz „Design can save the world“ schlicht zur Selbstlegitimation.
Permanente Themenwechsel und neue Herausforderungen gibt es auch in anderen Bereichen – in der Kunst, in der Politik, im Management. Was unterscheidet den Designbereich, was macht seine Besonderheit aus?
Das Spezifikum besteht darin, dass Design immer angewandt ist, dass es in der Industrie praktische Folgen zeitigt. Es geht – unabhängig von Branche und Geschäftsmodell – immer um die Frage: Welchen Kundennutzen erfülle ich mit meinem Produkt und wie kann ich es erfolgreich platzieren? Und dabei geht es nicht nur um physische Produkte. Auch die öffentliche Hand will ja Veränderung platzieren. Im Moment, um ein Beispiel zu nennen, wird viel über Mobilität diskutiert; möglichst viele sollen aufs Fahrrad umsteigen. Das muss gestaltet werden – und Design ist dabei einer der großen Hebel, mit denen sich etwas bewegen lässt. Wenn ich das Radfahren attraktiv machen möchte, dann brauche ich nicht nur irgendeinen Radweg. Es kommt auch darauf an, wie ist der Radweg und wie ist das Fahrrad gestaltet, damit ich Lust habe, mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zu fahren.
Konkreter gefragt: Welche Fähigkeiten hat die Designerin, der Designer, die der Ingenieur nicht hat? Die der Betriebswirt nicht hat, die der Marketing-Leiter nicht hat, die der Vertriebsmanager nicht hat?Funktioniert der Input des Designs im Change-Prozess wie ein Katalysator?
Das kommt darauf an, wie anwendungsorientiert gehe ich ran? Wie verstehe ich einen Entwurfsprozess? Wie gehe ich an Lösungen heran? Ich denke, dass Designer*innen grundsätzlich, ohne dass es ihnen allein darum gehen würde, über mehr Möglichkeiten verfügen, sie also eine größere Auswahl an Optionen haben, und deshalb offener an eine Aufgabe herangehen können.
Hat sich in den letzten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, im Verhältnis von Wirtschaft und Gestaltung, von Industrie und Design grundsätzlich etwas verändert?
Die Verankerung von Design in einem Unternehmen war lange abhängig von einzelnen Köpfen, von der Persönlichkeit des Unternehmers. Es war Chefsache, besonders in mittelständischen Unternehmen. Heute ist es mehr oder weniger selbstverständlich in der Struktur der Unternehmen verankert, am deutlichsten in Großunternehmen, etwa in der Automobilindustrie mit ihren großen Designabteilungen. Vieles bei der Integration erscheint weniger spektakulär, die Institutionalisierung des Designs insgesamt vollzieht sich weniger aufgeregt. Nicht zu vergessen: Das Thema Design hat sich stärker connected mit dem Thema Marke.
Wäre es vor dreißig Jahren selbstverständlich gewesen, dass jemand wie Peter Schreyer bei KIA nicht nur das Konzerndesign verantwortet, sondern auch im Vorstand sitzt? Ist das nicht auch ein Erfolg für den Rat, der seit 1953 dafür getrommelt hat, wie wichtig Design für die Industrie ist?
Design ist heute in vielen Fällen ganz selbstverständlich in den Unternehmen verankert. Nicht nur in der Automobilindustrie. Wenn man auf die Geschichte des Rat für Formgebung blickt, war es sein Präsident Philip Rosenthal, der in seiner Person das Zusammengehören von Industrie und Design verkörpert hat. Was bei Rosenthal dann später schiefgelaufen ist, hat mit dem Ansatz selbst wenig, aber viel mit Veränderungen in bestimmten Branchen zu tun. Nicht nur, was Porzellan und Besteck angeht, ist die Nachfrage gesunken. Selbst im Möbelbereich ist zu spüren, wie sehr sich die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit aufs Digitale und auf Themen wie Gaming verlagert hat. Was sich obendrein bei UX-Thematiken bemerkbar macht: Wie bediene ich digitale Devices? Welche Geräte habe ich überhaupt noch? Und noch weitergehend: Brauche ich dieses oder jenes Produkt noch oder erledigt das eine App auf meinem Smartphone? Überhaupt, was bedeutet das Verschwinden vieler materieller Dinge – für uns als Kunden, für das Design, für einzelne Industrien? Einerseits verschwindet die Dingwelt immer schneller, andererseits werden immer mehr Dinge produziert. Nehmen wir nur den Fashion- und Modebereich – ein Feld, das für den Rat eher am Rande relevant war und mit der DNA „German Design“ nicht unmittelbar in Verbindung gebracht wird. Im Zuge der Debatte um Nachhaltigkeit interessieren sich viele Unternehmen aus dem Stifterkreis zunehmend für innovative Stoffe und Textillieferketten, also für die positiven Beispiele aus diesem Bereich. Da verschiebt sich was, und da kommt uns unser branchen- und forschungsübergreifender Ansatz sehr zugute.
„Interessanterweise wird aus dem Markt zurückgemeldet, dass gerade in disruptiven Zeiten, in Phasen raschen Wandels Klassiker besonders gut laufen.“
— Lutz Dietzold
Nicht nur, was Produkte, auch was Geschäftsmodelle angeht, sind große Umbrüche zu beobachten. Design, Innovation, Marke – analysiert der Rat diese disruptiven Prozesse? Kann er vielleicht sogar etwas zur Beruhigung beitragen?
Interessanterweise wird aus dem Markt zurückgemeldet, dass gerade in disruptiven Zeiten, in Phasen raschen Wandels Klassiker besonders gut laufen. Die Konsument*innen scheinen sich in unruhigen Zeiten offenbar dem Bewährten zuzuwenden. Auch das Thema Heritage spielt für Unternehmen zunehmend eine Rolle: Wo komme ich her, was mache ich, bin ich glaubwürdig? Vertraut man mir – auch in Sachen Nachhaltigkeit? Da hilft es, auf eine klare Linie zu setzen. Selbst bei den Automobilkonzernen, bei denen noch vor wenigen Jahren alles in Frage gestellt schien – werde ich zum Anbieter von Taxi-Leistungen und Sharing-Plattformen, produziere ich auch Fahrräder? – hat sich vieles konsolidiert. Bei deutschen Marken lässt sich derzeit, inspiriert vom Fashionbereich und französischen Vorbildern, eher eine Fokussierung auf Luxus beobachten.
Design wird ja oft kritisiert, es agiere zu marktorientiert, schaffe falsche Anreize, fördere überflüssigen Konsum – und so weiter. Lässt sich im Design und in den Unternehmen ein Bewusstseinswandel feststellen?
Märkte entwickeln sich, Dinge werden gestaltet, Firmen bringen Produkte auf den Markt, sind damit erfolgreich oder nicht – es ist nicht meine Aufgabe, darüber zu richten. Die Frage ist eher: Wie kann ich es richtig und glaubwürdig machen. Ich finde, was Nachhaltigkeit und Verantwortung angeht, passiert derzeit bei vielen Unternehmen sehr viel, oft im Hintergrund. Welche Materialien und Komponenten lassen sich wiederwenden? Kann bei bestimmten Materialien ganz auf eine Lackierung verzichtet werden? Was zudem Kosten spart. Am Ende aller Überlegungen muss in vielerlei Hinsicht ein gutes Produkt stehen.
„Vor fünf Jahren hat es ausgereicht, Plastikflaschen im Meer einzusammeln und einen neuen Schuh oder etwas ähnliches daraus zu machen. Heute wird das in den Jurys anders diskutiert.“
— Lutz Dietzold
Der Rat veranstaltet ja diverse Awards. Lässt sich an den Einreichungen ein Bewusstseinswandel ablesen?
Ja, da hat sich in den letzten Jahren viel getan, besonders, was das Thema Nachhaltigkeit angeht. Vor fünf Jahren hat es ausgereicht, Plastikflaschen im Meer einzusammeln und einen neuen Schuh oder etwas ähnliches daraus zu machen. Heute wird das in den Jurys anders diskutiert. Es wird gefragt: Wieso kommt die Flasche überhaupt ins Meer? Müssen wir nicht schon früher ansetzen und verhindern, dass sie überhaupt dorthin kommt. Da ist ein gewaltiger Veränderungsprozess im Gange, der sich natürlich in den Entscheidungen der Jurys niederschlägt. Die Unternehmen müssen heute auch belegen, wie ihre Kreisläufe funktionieren, wo etwas herkommt und wie es verarbeitet wird. Gerade bei den jungen Designer*innen, die von den Hochschulen kommen, wird das Thema Material ganz stark nach vorne gespielt, ebenso wie das Thema Social Design.
Die rebellische Jugend ist das eine. Sind die Unternehmen auch mutiger geworden?
(lacht) Sind die Unternehmen mutiger geworden? Anders. Die Notwendigkeit ist da, die gesellschaftlichen Folgen zu reflektieren und danach zu handeln. Dabei geht es nicht allein um die Frage, was am Ende vom Band läuft und in den Handel kommt. Die Frage ist heute eher: Was finde ich für Mitarbeiter*innen, wo kommen die her und wie arbeiten sie? Ein Unternehmen, das glaubt, den Wandel ignorieren zu können, wird zunehmend Probleme bekommen. Das bedeutet: Die Veränderung wird schon durch das Recruiting, das ich betreibe, angestoßen. Und das ist eine ganz spannende Thematik, übrigens auch gestaltungsrelevant: Wie sieht mein Unternehmen aus, was biete ich für ein Arbeitsumfeld?
Was propagiert wird, muss auch gelebt werden.
Klar. Alles das hat Auswirkungen darauf, wie Prozesse entstehen, wie neue Dinge entstehen und wie Arbeit in Unternehmen organisiert wird. Und auch da kann man wieder die Frage stellen, was sich verändert, wenn nicht nur das Arbeitsumfeld, sondern der gesamte Prozess durch die gestalterische Brille betrachtet wird.
Vieles wird durch die Digitalisierung der Prozesse verändert. Künstliche Intelligenz und virtuelle Parallelwelten wie das Metaverse werden gerade intensiv diskutiert. Was bedeuten sie für Design, Innovation und Marke?
Aus der Nachhaltigkeitsdiskussion folgt auch, dass der Zugang zu bestimmten Dingen zukünftig nicht mehr so einfach sein wird, weil sie teurer werden oder bestimmte Produkte verschwinden. Ein einfaches Beispiel: Wenn die Einstiegspreise für Autos steigen, Energiekosten, City-Maut und CO2-Preis dazukommen, dann heißt das, bestimmte Menschen werden sich kein Auto mehr leisten können. Generell kann man davon ausgehen: Nur über einen Rückgang, über eine Beschränkung, werden wir den Ressourcenverbrauch in den Griff bekommen. Was aber heißt es, wenn ich mir kein Auto mehr leiste. Und da sind wir wieder bei der Gestaltung: Kann ich mir dann eins leihen? Kann ich das Erlebnis des Autofahrens – Freiheit, Geschwindigkeit – auch anders befriedigen, den Wegfall mittels digitaler Erlebnisse kompensieren? Kann Design da ganz neue Angebote schaffen? Und ist das nicht auch ein Gewinn?
Heißt das, wir steuern auf eine Art Surrogat-Kultur zu? Oder ist das zu streng gesehen?
Naja, die Frage ist ja, bewegen wir uns nicht längst (lacht) in Surrogat-Kulturen? Und wie kann ich das Erlebnis anders gestalten?
Spielen – nicht nur bei der KI – die Schnittstellen zwischen den Maschinen und uns als Nutzern dabei eine zentrale Rolle? In der Digitalisierung machen wir doch ständig die Erfahrung, dass immer mehr Aufgaben an uns als Verbraucher*innen übertragen werden. Sind da nicht Schnittstellen und Organisationsmodelle gefragt, die eben nicht alles – oft auch in nicht zu gebrauchender Weise – an den Nutzer delegieren?
Wo Bankfilialen und Geschäfte geschlossen werden und persönliche Kontakte wegfallen, bleibt oft nur die digitale Schnittstelle. Und da muss ich sagen – da gibt es ein gutes Angebot und ein schlechtes Angebot. Zu einer App habe ich keine persönliche Bindung, bekomme sie aber über die Usability. Das richtig gut zu gestalten, ist eine Herkulesaufgabe. Wer das schlecht macht, ist eher heute als morgen vom Markt verschwunden. Viele haben das noch nicht verstanden. Warum kommen wir mit gut gestalteten digitalen Services nur langsam weiter? Zumal wir für bestimmte Berufe, für bestimmte Stellen keine Menschen mehr finden werden, die dort arbeiten. Warum stellen viele Cafés auf Selbstbedienung um? Weil sie keine Arbeitskräfte finden, die in der Gastronomie tätig sein möchten. Das kann man schade finden, und das mag die Trennung in Selfservice und personal- und kostenintensive Gastronomie beschleunigen. Es bleiben trotzdem Tatsachen.
Im Streben nach mehr Effizienz haben sich viele Prozesse beschleunigt. Ist es womöglich an der Zeit, hier und da etwas zu bremsen? Auch, um Folgen einbeziehen zu können, die man auf den ersten Blick nicht erkennt.
Es ist wichtig, die Balance zu halten zwischen den Polen Beharren und Nach-vorne-Drängen. Ganz gleich, was man gestaltet, es kann, bevor man etwas abschließt, nicht schaden, sich alles nochmal aus der Distanz anzuschauen und kritisch zu prüfen. Das ist für mich ein bisschen wie bei zwei Gewichten, die zusammen funktionieren müssen.
Also wäre es doch für den Rat eigentlich eine ganz schöne Aufgabe, das richtige Tempo zu finden.
Wir bestimmen das Tempo ja nur bedingt selbst nicht, die zunehmende Geschwindigkeit von außen erfordert eine immense Adaptionsfähigkeit und Flexibilität. Klar können wir jetzt auch bei KI oder ChatGPT ein Moratorium fordern, aber was heißt das denn eigentlich? Das ist ja die zentrale Frage auch am Ganzen für mich im Moment, auch wenn ich das sozusagen national betrachte in der Politik. Kann man den ganzen Change-Bedarf nur regulativ steuern? Und da würde ich sagen, nein, das muss in meinen Augen auch emotional gesteuert werden, um die Nutzer mitzunehmen – und da spielt Gestaltung für mich eine ganz zentrale Rolle. Mit den Mitteln des Designs kann es viel schneller und viel lustvoller gehen. Wir alle erleben es, diese Stellen, wo bessere Gestaltung notwendig wäre. Da muss gehandelt werden. Und das kann natürlich durch Gestalter auch zu einem großen Teil mitgelöst werden. Es ist also viel mehr Gestaltung von Nöten. Meine Antwort wäre daher: Schneller! Also nicht schneller gestalten, aber schneller mehr gestalten.
Hier gelangen Sie zum ersten Teil des Interviews.
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