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Zeitlosigkeit als Vision, Handwerk als Basis: Jil Sander, die 2018 für ihr Lebenswerk mit der Personality-Auszeichnung des German Design Award geehrt wurde, ist eine Ausnahmeerscheinung der deutschen Mode. Ihre Bedeutung für die hiesige Modekultur ist bis heute unangefochten. Ihre Maxime, weniger und besser zu produzieren und Kleidungsstücke als Investition fürs Leben zu betrachten, setzte von jeher auf Nachhaltigkeit und Wertschätzung.

Von Silke Bücker

Jil Sander © Peter Lindbergh (courtesy Peter Lindbergh Foundation, Paris)

Am 27. November feierte die „Queen of less“, die 1943 als Heidemarie Jiline Sander in Hedwigenkoog geboren wurde, ihren 80. Geburtstag. Gegenüber der Deutschen Presse-Agentur äußerte sie in der für sie typischen Zurückhaltung und Bescheidenheit lediglich, sie werde zu diesem Anlass auf Reisen gehen, um nicht allzu sehr darüber nachdenken zu müssen. Im Jahr 2017 konzipierte Jil Sander in Kooperation mit dem Museum Angewandte Kunst in Frankfurt eine umfassende Werkschau: „Jil Sander. Präsens“, die ihr beeindruckendes Schaffen detailliert aufbereite; 2018 wurde sie für ihr Lebenswerk mit der Personality-Auszeichnung des German Design Award geehrt. Wie die japanische oder belgische Avantgarde hat sie Mode immer als (funktionale) Kunst verstanden. Und obwohl die Ausstellung mehrere Jahrzehnte ihrer Arbeit eindrucksvoll vorstellte, war es ihr wichtig, das Gesamtkonzept erkennbar in der Jetztzeit zu verankern.

Vom Bauhaus inspiriert

Jil Sanders dreidimensionale Formensprache und die Anleihen an die Bauhaus-Ära sind elementar für ihre Arbeit. Was aber macht ihr Konzept im Detail so immerwährend relevant? Es ist die klare, der Körperkontur mal ent- und mal widersprechende Silhouette, es ist die Geometrie der Linienführung, die Architektur des Volumens, die Subtilität und Raffinesse in Details und Farben, die Erlesenheit in den Qualitäten, wie Cashmere, weiches Leder oder feine Kunst- und Naturfasern. Jil Sanders Avantgarde ist durchdacht, schlau und reflektiert, frei vom narzisstischen Drang einer Schaffenden. Ihre Inspiration bezieht sie unter anderem von Walter Gropius, dem Begründer des Bauhauses, der die Idee wie folgt skizzierte: „Design ist eine Botschaft an die Sinne. Das Handwerk hat die Aufgabe, diese Botschaft des Gestalters zu übermitteln. Durch Ehrlichkeit des Materials und durch entwurfsgetreue, einwandfreie Verarbeitung bis ins Detail. Die Qualität des Handwerks ist also unentbehrlich für die Qualität der Form. Die Fähigkeit, beides zu beherrschen, ist die Voraussetzung für die ideale Verbindung von Funktion und ästhetischem Anspruch, für zeitlos gültiges Design.“

Kleidung muss am Menschen gedacht werden, nicht auf dem Papier

Jil Sander ist insofern vor allem auch eine Handwerkerin, die ihre Kreationen vom Material als Basis aus konzipiert. Sie folgt mit ihren Schnitten der Beschaffenheit und dem Fall des Stoffes, und überlegt erst dann, wie sie ihn in die von ihr kultivierten, skulpturalen Formen bringen kann. Sie drapiert lieber im Atelier als ihre Entwürfe zu zeichnen. Kleidung muss am Menschen gedacht werden, nicht auf dem Papier, nicht an der Puppe. So wie das Bauhaus mit seiner prägnanten klaren Formensprache für immer zeitlos wirkt, tun es Jil Sanders perfekt ausbalancierte Entwürfe – ein Zusammenspiel aus Eleganz, Minimalismus, Schönheit, Funktionalität, Komfort, Qualität und Form. Dabei wehrt sie sich gegen die Unterstellung einer kreativen Wiederholung. Es soll immer nach vorne gehen, der Blick in eine noch vielversprechendere Zukunft gerichtet sein: „Ich setze auf höchste Qualität von Material und Verarbeitung, ich konzentriere mich auf die Perfektionierung des Details. Davon abgesehen liegt die Chance, gute Mode zu machen, meiner Meinung nach darin, sich nicht anzupassen an einen frenetischen Rhythmus, die eigene Handschrift nicht zu verändern“, bekennt sie in Maria Wiesners „Annäherung“. Kontinuität und das Beibehalten der eigenen Vision sind ihr größtes Erfolgsrezept, und das ohne jemals banal oder redundant zu werden – auch und immer wieder gegen den Strom. Den frenetischen Rhythmus sah Jil Sander lange voraus. In den 1980er Jahren löste ein Trend den nächsten ab: laut, bunt, schillernd, exzentrisch. In den 1990ern folgte der Boom von „Fast Fashion“ mit der Copy-Cat-Strategie, Designer-Mode unmittelbar vom Laufsteg zu kopieren und zu konkurrenzlos günstigen Preisen anzubieten. In der High Fashion wurde zeitgleich ein neuer Minimalismus kolportiert, den Jil Sander von Beginn an als ihre Vision verstand.

Jil Sander – Präsens 2017 im Museum Angewandte Kunst © Paul Warchol

Die Suche nach textiler Befreiung

Ihr Ansinnen war es, Frauen Selbstbewusstsein, Stärke und auch Schutz anzutragen, zu einer Zeit, als sie alles andere als selbstbestimmt sein durften. Dieser Antrieb eint Jil Sander mit einer anderen Ikone der Mode, Vivienne Westwood, über die sie in ihrem Nachruf sagte: „Im Modedesign war sie das Gegenprojekt zu meiner Aussage, aber in der Motivation habe ich mich mit ihr verwandt gefühlt.“ In der Suche nach Authentizität und Freiheit trifft sie sich nicht nur mit Westwood, auch Gabrielle „Coco“ Chanel wollte die Frauen im doppelten Sinne ihres Korsetts entledigen.  Bei aller Disziplin und Strebsamkeit ist Jil Sander am Ende doch eine Rebellin, die Werte und Maxime immer wieder hinterfragt. Also lehnte sie das objekthafte, überfeminisierte und dennoch biedere Frauenbild ihrer Zeit kategorisch ab. Ihre Empörung darüber mündete in der Motivation, es selbst in die Hand zu nehmen: „Die Kleidung für Frauen, so empfand ich es, hatte eher ephemeren Charakter. So etwas Launiges und Launisches, das oft in einem Modeschöpfer-Blödsinn gipfelte, der den Frauen offenbar nur das geistig-ästhetische Rückgrat einer Barbiepuppe zumuten mochte.“

Gegen den Strom, aber niemals anti

Ihre erste Idee war es, gutes, solides Design für wenig Geld anzubieten. Etwa zur selben Zeit wagte sie mit 24 Jahren den Schritt in die Selbstständigkeit und eröffnete 1967 eine Boutique in der Hamburger Milchstraße, deren schwarz getünchte Fassade für die damalige Zeit revolutionär war. Zunächst verkaufte sie Mode anderer Designer*innen, wie etwa Sonia Rykiel oder Thierry Mugler. Schnell ging sie dazu über, das Angebot von „Jil Sander Moden“ um eigene Entwürfe zu ergänzen. Sie hatte erkannt, dass ihr initiales Konzept nicht aufging, also kehrte sie es ins Gegenteil um: „Ich begriff, wie schwer Riesenquantitäten für wenig Geld, das bedingt sich ja, zu handhaben sind, und da habe ich mir gesagt, also versuche ich es noch mal, mit kleinen Mengen, aber mit phantastischer Qualität und reduziertem Design.“

Jil Sander – Präsens 2017 im Museum Angewandte Kunst © Paul Warchol

Ihre erste eigene Kollektion lanciert sie 1973. Es ist eine Auswahl an perfekt geschnittenen Essentials in luxuriösen, natürlichen Qualitäten. Eine Antithese zur vorherrschenden hippiesken Exzentrik der Zeit, die den Nerv emanzipierter, berufstätiger Frauen auf der Suche nach Freiräumen (so wie Sander selbst) auf Anhieb traf. Die Kollektion war im Handumdrehen ausverkauft. Ihre Ästhetik richtete sich an künstlerisch orientierte, aufgeklärte, reflektierte und selbstbestimmte Kundinnen, die sich in ihren Berufen oft gegen eine Männerdomäne durchsetzen mussten. Designerinnen, Journalistinnen, Künstlerinnen oder Architektinnen, sie wollte Frauen mittels ihrer Mode-Avantgarde ein Gefühl von Stärke und Selbstvertrauen mit auf den Weg geben. Dabei ging es ihr um die Reduktion auf das Wesentliche: keine Ablenkung von der Essenz, nicht den Fokus verlieren. Sie selbst zeigt sich meist gekleidet in Hosenanzug (eines ihrer „Signature Pieces“), flachen Schuhen und einer Rolex als einzigem Schmuck im Sinne von Funktion, nicht Dekoration.

Sanders Maxime als Ausdruck von Nachhaltigkeit

Keine Ablenkung von der Essenz, dieser Ansatz zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Karriere – und gilt heute als die neue alte Maxime der Mode. Weniger und besser produzieren und Kleidungsstücke als Investition fürs Leben betrachten, lautet die aktuelle Forderung nach „leisem Luxus“, mehr Nachhaltigkeit und Wertschätzung gegenüber Textilien. Schon als sich erste Auswüchse der Fast-Fashion-Ära zeigten, Bekleidung und die damit verbundenen Herstellungsprozesse ihrer Wertigkeit beraubt wurden, hielt Sander aus Überzeugung dagegen. Auch das zeigt, wie sehr sie ihrer Zeit voraus war und ist. Schon im Rahmen ihrer Ausbildung zur Textilingenieurin wurde ihr Blick für sachliches, zeitloses Design geschärft. Und von ihrer Mutter hatte sie die Haltung übernommen, dass es sich auszahlt, in wenige, dafür hochwertige Kleidungsstücke mit langer Halbwertszeit zu investieren. Die hat sie letztlich selbst geschaffen und wer heute in einer Second-Hand-Boutique auf ein gut gepflegtes Jil-Sander-Stück stößt, wird überrascht sein, wie herausragend die Qualität und wie zeitgemäß die Ästhetik ist. Ihr unnachgiebiger Perfektionismus, aus dem Minimalen das Maximale herauszuholen, brachte ihr schon früh den Titel „Queen of less“ ein.

Jil Sander © Peter Lindbergh

Einer ihrer populärsten Entwürfe ist der von ihr so geschätzte Hosenanzug, den sie ikonisch reinterpretierte. Die wichtigsten Attribute – eine perfekte Silhouette, dezent betonte Schulterpartie und Kragen sowie lässig geschnittene Hose – verleiht Frauen Bewegungsfreiheit und Selbstvertrauen. Damit konterte sie das übertriebene Power-Dressing der 1980er und frühen 1990er Jahre, das nur augenscheinlich Stärke verlieh. Genau betrachtet, kam die Silhouette mit überbreiten gepolsterten Schultern und ultraschmaler Taille fast einer Karikatur gleich. Im Gegensatz zu den entspannt aber dennoch minutiös auf den weiblichen Körper übersetzten, vom klassischen Tailoring inspirierten Entwürfen Sanders, die schlicht selbstverständlich wirken. Sie war es auch, die das erste futterlose Sakko auf den Markt brachte, das so präzise geschnitten war, dass es keiner Unterfütterung für die perfekte Form bedurfte. Ende der 1990er Jahre entwickelte Jil Sander ihre Signatur weiter, ohne die ureigene DNA zu vernachlässigen. Nun zeigten ihre Entwürfe Asymmetrien, Wölbungen, wo man keine vermuten würde oder bewusst unpassend sitzende Partien, angeregt vom japanischen Dekonstruktivismus à la Yohji Yamamoto, Issey Miyake und Comme des Garçons. Verspielt oder exzentrisch wurde Sander dabei nie.

Eine Bedeutung, die bleibt

Immer wieder suchte sie nach textilen Lösungen für eine komfortable Funktionalität von Kleidungsstücken. Denn Mode ist nur relevant, wenn sie im Leben funktioniert, ihre Trägerin unterstützt und hebt, aber niemals behindert. Zuletzt gelang ihr dies für ihre eigene Marke im Jahr 2013, nachdem sie 2012 als Nachfolgerin von Raf Simons zum dritten Mal ins Unternehmen zurückkehrte, um es schon kurz darauf, und dieses Mal endgültig, aus persönlichen Gründen zu verlassen. Die Mode-Kritikerin Suzy Menkes brachte es treffend auf den Punkt: „Jil Sander wusste instinktiv, was moderne Frauen wollen, weil sie selbst eine ist.“ Sicherlich hat Jil Sanders Bedeutung als feministische Designerin in der heutigen Zeit, in der sich die Mode genauso wie Geschlechter- und Rollenbilder längst verselbstständigt hat, an Relevanz verloren. Aber nur dahingehend, dass Emanzipation oder Befreiung mittels eines „demonstrativen Looks“ nicht mehr notwendig sind. Ihr reduzierter Stil und ihr Qualitäts-Fetischismus jedoch sorgen dafür, dass ihre Kreationen noch Dekaden überdauern und sich finden lassen – in den Kleiderschränken ihrer Fans oder an Orten die „preloved fashion“ anbieten, ob online oder stationär. Jil Sander bleibt mit ihrem Anspruch Vorbild für die Generation nachkommender deutscher Modedesigner*innen, die ihre Prinzipien zeitgemäß interpretieren. Mit anspruchsvollen Kollektionen auf Basis von Zero-Waste- oder Circularity-Prinzipien, mit einem kompromisslosen Anspruch an dauerhafte Relevanz auf Basis von bereits Vorhandenem, um Umwelt und Ressourcen zu schonen.


Auf die Frage, ob sie die Welt immer noch verschönern wolle, antwortete Jil Sander 2021 in einem Interview: „Was Schönheit betrifft, sind die Ansprüche verschieden, obwohl die Natur Momente bietet, die jeden berühren, wie jüngst der unerwartete Wintereinbruch – ich war fasziniert von dem klaren Licht hier im Norden und dem extrem reinen Schnee. Die Natur ist uns allen voraus, auch als Designerin. Über mich würde ich lieber sagen, dass ich die Dinge ordnen und auf das Wesentliche des Augenblicks reduzieren möchte. Und das Wesentliche ist eine Funktion der Zeit und verändert sich. Schönheit ist auch das Gefühl, die Gegenwart in der eigenen Existenz angemessen zu reflektieren.“

Die Zitate stammen aus: Jil Sander – Eine Annäherung von Maria Wiesner

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