Ob Smartphone, Streaming- oder Sharing-Dienst – viele (digitale) Produkte sind so gestaltet, dass wir ihnen nicht widerstehen können. Doch was macht sie so anziehend? Das „Hook-Modell“ von Nir Eyal zeigt, wie cleveres Design unser Leben prägt und wir dadurch positive wie negative Gewohnheiten entwickeln.
von Oliver Herwig

Heute schon das Handy in der Hand gehabt? Natürlich. Wahrscheinlich schon ein Dutzend Mal – und der Tag ist noch nicht um. Statistiken sagen, dass wir das kleine Ritual mindestens 50-mal täglich vollführen, manchmal sogar bis zu 120-mal. Doch warum greifen wir automatisch zum Smartphone, während nachhaltige Alternativen wie der Mehrwegbecher oder das Fahrrad oft noch eine bewusste Entscheidung erfordern? Warum fällt es uns so schwer, Ressourcenschonung oder Müllvermeidung genauso selbstverständlich in unseren Alltag zu integrieren?
Die Antwort liegt im Design. Nir Eyal hat in seinem Bestseller „Hooked. How to Build Habit-Forming Products“ bereits 2014 analysiert, wie Produkte und Services so gestaltet werden, dass sie unentbehrlich werden. Er destilliert vier Mechanismen heraus, die Unternehmen nutzen, um Produkte zu entwickeln, zu denen wir immer wieder zurückkehren: Trigger, Action, Rewards, Investment. Doch diese Prinzipien sind nicht nur für die digitale Welt relevant – sie könnten ebenso genutzt werden, um nachhaltige Konsumgewohnheiten und Kreislaufwirtschaft zu fördern.

Die perfekte Sucht
Eyals Modell beschreibt die Verführung in vier Akten. Der Auslöser ist oft nur ein kleiner Hinweis, eine winzige Nachricht, die neugierig macht. Die Kunst der Gestaltung besteht nun vor allem darin, die externen Trigger zu internalisieren. Ein Produkt oder ein Service verschmilzt mit unseren Emotionen, bis wir sie freiwillig aufrufen, quasi reflexartig. Und schon läuft eine minutiös choreographierte Handlungskette ab, die Eyal mit dem Fogg-Verhaltensmodell erklärt: Verhalten ist Motivation plus Fähigkeit plus Auslöser.
Nur, wenn alle drei Bestandteile im richtigen Moment zusammentreffen, werden wir aktiv. Die wahre Raffinesse der Verführung liegt in der Belohnung. Wie beim Glücksspiel macht gerade das Unvorhersehbare süchtig. Mal werden wir durch eine spannende Nachricht belohnt, dann wieder lauert eine kleine Enttäuschung. Der stete Wechsel treibt uns an. Den Schlussakkord vollziehen alle Nutzer*innen freiwillig, indem sie immer mehr Zeit investieren, manchmal auch Engagement, Leidenschaft, ja Liebe. Entsprechend enger wird unsere Bindung an Dienstleistungen und/oder Dinge. Dieses Sucht-Prinzip lässt sich nicht nur für digitale Abhängigkeiten nutzen, sondern auch für nachhaltige Verhaltensweisen. Das Fahrrad-Sharing-System um die Ecke, die App, die Lebensmittel rettet, oder der Smart Ring zur Messung biometrischer Parameter – sie alle setzen auf ähnliche Mechanismen, um Routinen zu etablieren, die langfristig einen positiven Einfluss haben.
Wir sind konditioniert. Auch dafür hat die Wirtschaftswissenschaft eine Bezeichnung: „Versunkene Kosten“, also der Aufwand, den wir schon in Geschäfte gesteckt haben. Entscheidungen treffen wir fortan nicht mehr logisch, also mit Blick auf unsere zukünftigen Ziele, sondern weil wir hoffen, etwas zurückzuholen, was wir bereits in eine Sache „investiert“ haben. Die „Sunk Cost Fallacy“ ist also eine weitere Selbsttäuschung, die Entscheidungen zu unseren Ungunsten beeinflusst. Indem Nir Eyal diese Mechanismen der Gewohnheitsbildung sezierte, lieferte er zugleich eine Art Blaupause für die Produktentwicklung, die virtuos auf Trigger abzielt und sie zu einer Choreographie der Gewohnheit(en) verdichtet. Und Design? Das fungiert als stiller Wegweiser.
„Zweifellos hängen wir alle an solchen Systemen, die uns erpressbar werden ließen. Einfluss haben wir aber immer noch auf den Grad der Abhängigkeit“
– Lucius Burckhardt

Das perfekte Produkt
Niemand zwingt uns, wir machen es ja freiwillig. Wie aber ist die stille Macht des „Nudging“ – des sanften Stupsens in eine Richtung – zu bewerten? Und wo, bitte, verläuft die Grenze zur Manipulation? Es geht darum, wie transparent solche Systeme gestaltet sind. Güter sind „dann schädlich, wenn sie uns von Systemen abhängig werden lassen, die uns am Ende ausplündern oder im Stich lassen“, sagte Lucius Burckhardt, und fügte hinzu: „Zweifellos hängen wir alle an solchen Systemen, die uns erpressbar werden ließen. Einfluss haben wir aber immer noch auf den Grad der Abhängigkeit.“
Ein smarter Kühlschrank, der unsere Ernährung kontrolliert und zu einer Art Life Coach wird, mag als Probe aufs Exempel dienen: Erst gibt er hilfreiche Ernährungstipps, dann personalisierte Rezepte, schließlich regelt er gleich noch den Einkauf für den nächsten Geburtstag. Der digitale Butler hat uns am Haken – und wir haben nicht einmal gemerkt, wie und wann genau es passiert ist. Plötzlich ploppt die Nachricht auf: „Wie wäre es mit einem Thai-Curry aus den Resten von gestern?“ Eigentlich keine schlechte Idee.
Nicht anders steht es mit Streaming-Diensten. Sind sie nun die Serien-Dealer unseres Vertrauens oder nur die perfekte Zerstreuung, die aus kleinen Entscheidungen und Einstellungen Gewohnheiten ableitet und formt? Netflix und Co. haben die Kunst der sanften Nötigung perfektioniert. Kaum ist eine Folge zu Ende, startet schon die nächste. Währenddessen sammelt der Algorithmus fleißig Daten über unseren Geschmack und ist bald so gut, dass er unsere nächste Lieblingsserie bereits vor uns kennt.

Wenn gutes Design dazu beiträgt, dass wir unbewusst den Mehrwegbecher statt den Einwegbecher greifen oder lieber mit dem Rad als mit dem Auto fahren, dann ist das mehr als nur clevere Produktgestaltung – es ist ein echter Hebel für Veränderung.
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Nachhaltigkeit als neue Designaufgabe
Alle, die sich fragen, warum manche Produkte geradezu süchtig machen, während andere in der digitalen Belanglosigkeit verschwinden, sollten sich Nir Eyals „Hook-Modell“ ansehen. Es arbeitet das Drama der Gewohnheit psychologisch brillant auf, macht aber vor allem das Kopfkino transparent, das losgeht, sobald uns eine App, ein Gerät oder ein Service am Haken hat. Der Dozent der Stanford University School of Engineering analysiert, wie Unternehmen unser Belohnungssystems nutzen, um Umsatz zu generieren. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Natürlich lässt sich unser Belohnungssystem auch für die Etablierung positiver Gewohnheiten nutzen. Und dafür, nachhaltige Entscheidungen zu fördern. Eine App, die auf spielerische Weise anzeigt, wie viel CO₂ durch die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel eingespart wurde, oder ein Second-Hand-Mode-Portal, das mit Belohnungen für Wiederverwendung arbeitet – das sind Beispiele für nachhaltige Produktgestaltung, die sich das Hook-Modell zunutze macht.
Die Zukunft gehört den Produkten, die es schaffen, nachhaltige Verhaltensweisen so intuitiv und lohnenswert zu machen, dass wir sie freiwillig wählen. Gute Produktgestaltung bedeutet, dass nachhaltige Alternativen nicht nur existieren, sondern auch zur einfacheren, attraktiveren und emotional befriedigenderen Wahl werden. Ob durch Gamification, ästhetische Anreize oder geschicktes Nudging – Designer*innen haben die Möglichkeit, nachhaltige Routinen genauso wirkungsvoll zu etablieren wie digitale Konsumgewohnheiten. Denn Wissen ist das eine. Handeln etwas ganz anderes. Und wenn gutes Design dazu beiträgt, dass wir unbewusst den Mehrwegbecher statt den Einwegbecher greifen oder lieber mit dem Rad als mit dem Auto fahren, dann ist das mehr als nur clevere Produktgestaltung – es ist ein echter Hebel für Veränderung.
Hooked.
Wie Sie Produkte erschaffen,
die süchtig machen
Nir Eyal
Softcover, 208 Seiten
Erschienen: September 2014
Gewicht: 356 g
ISBN: 978-3-86881-536-8
19,99 € inkl. MwSt.
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