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„In einer Welt, in der zur Herstellung eines Autos nicht weniger als 400.000 Liter Wasser gebraucht werden, ist es lächerlich, die Leute zu ermahnen, sie sollten das Eierwasser zum Blumengießen verwenden, um Wasser zu sparen.“ Wo es um umweltschonendes Verhalten geht, herrscht an kleinen und großen Absurditäten kein Mangel. Jürgen Dahl (1929 bis 2001) hat sie aufs Korn genommen – und ist doch bis heute ein umweltpolitischer Geheimtipp geblieben.

Von Thomas Wagner.

Foto von Jürgen Dahl
Foto Jürgen Dahl. Copyright: © Jürgen Dahl

Der Sohn des Malers Oskar Dahl war zunächst Buchhändler in Krefeld. Später arbeitete er als Redakteur der Zeitschrift „Scheidewege“ und schrieb philosophische und naturwissenschaftliche Artikel und Bücher. Bekannt wurde er durch seine Gartenkolumnen in Zeitschriften wie „Natur“ und der Wochenzeitung „Die Zeit“. Adressat seiner Reflexionen war seit Ende der 1960er-Jahre besonders das zunehmend besorgte Bürgertum, das Milieu der neu entstehenden Bürgerinitiativen, der Anti-Atom- und Umwelt-Bewegung. Als Mathias Greffrath 2011 in der „Zeit“ noch einmal an die Avantgardisten der Anti-Atom-Bewegung erinnerte, nannte er den vielseitigen Autor in einer Reihe mit Robert Jungk („Der Atomstaat“) und Günter Anders („Die Antiquiertheit des Menschen“). Alle drei hätten sie „der Empörung Worte gegeben“, prophetische, skeptische, ironische, trauernde und aggressive.

Ein strenger Aufklärer, kein Moralapostel

Dahl spielt nicht den Moralapostel; er predigt nicht, betreibt Aufklärung. Seine muntere Skepsis fußt auf genauer Beobachtung und stringenter Analyse. Das bewährt sich bei den vielfältigen Themen, die er aufgreift, zeigt sich aber auch am feinen Gespür für Nuancen, mit dem er Sprache und Begriffe seziert, durch die wahren Motive verborgen bleiben. Vor dem Hintergrund der aktuellen Klimakrise und dem Verlust der Artenvielfalt gelesen, werfen seine analytischen Mahnungen ein ums andere Mal ein grelles Licht auf die zuweilen hysterische Aufmerksamkeitspolitik aktueller Umweltbewegungen. Dabei übernimmt Dahl die Rolle einer Kassandra sowenig wie es ihm darauf ankommt, am Ende Recht zu behalten. Er verändert die Perspektive, schlägt neue Wege ein, zieht Grenzen – und sollte schon deshalb von all jenen gelesen werden, die sich die Rettung der Welt durch kreative Ideen auf die Fahnen geschrieben haben. Wo heute noch gern nach dem beschwichtigenden Prinzip: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ verfahren wird, meldet Dahl Zweifel an und hält Einreden. Der technische Fortschritt, so ist er überzeugt, wird es allein nicht richten. Und so belegen seine wieder aufgelegten Texte ein ums andere Mal, dass es lohnt, der eigenen Befangenheit durch einen Blick in die jüngere Vergangenheit zu begegnen.

Anschauung statt Abstraktion

Das Panorama ist weit gespannt. Auf der einen Seite: Plädoyers und Einreden – gegen die Mobilität, gegen Plastik. Auf der anderen eine Analyse der Ökologie, die über diese hinausweist. Argumente und Ansprüche werden auf den Prüfstand gestellt: Was ist berechtigt, was überzogen? Ob es um die Maßeinheit von Blutdruckmessungen, um die Wirkung von Psychopharmaka, um nützliche Erfindungen oder das letzte Wispern nach einem Atomschlag geht, Dahl ficht mit elegantem Florett gegen „die feudale Willkür in der Verkleidung der Wissenschaft“. Er opponiert gegen alles Irreparable, kritisiert die Absurditäten der Konsumwelt, den grassierenden Warenwahn und die Beschleunigungsspirale. Freundlich und verbindlich im Ton zeigt Dahl jene fatalen Teufelskreise auf, in die wir als Teil unserer Zivilisation unweigerlich verstrickt sind. Bis wir den Verdacht nicht mehr loswerden, dass wir erst dann aus ihnen werden herausfinden können, wenn wir aufhören, uns selbst zu belügen und bereit sind, tatsächlich etwas zu ändern. Dabei erkennt sein scharfes Auge das Problematische an Abstraktionen jeder Couleur. Im Gegenzug erprobt er eine Anschauung, die sich jedem Wesen zuwendet, um darauf eine neue Weltsicht aufzubauen.

Wie man Adler mit Buletten ausrottet

Ein Beispiel Dahls für die Logik des Selbstbetrugs ist die Ausrottung des Philippinischen Adlers: „Für die Gewinnung jenes Fleisches, aus dem die Schnellrestaurants ihre Buletten zubereiten, wird der Tropenwald abgeholzt, was den Bestand des Philippinischen Adlers gefährdet; aus den Geldern aber, die beim Verkauf der Buletten übrigbleiben, wird dann ein Aufklärungsfilm über die Abholzung der Tropenwälder und die Gefährdung des Philippinischen Adlers finanziert. Würde jemand den Philippinischen Adler gleich zu Buletten verarbeiten – die Verachtung vieler Esser wäre ihm gewiss.“

Erlebendes Erkennen anstelle toter Wissenschaft

Dahl geht es schlicht darum, herauszufinden und auszusprechen, „wie es denn eigentlich zugeht in der Welt“. Kein einfaches Unterfangen, wo Interessen im Spiel, Dinge und Systeme komplex sind. Unter dem Titel „Annäherung an den Salbei“ etwa zeigt er exemplarisch auf, wie differenziert, detail- und folgenreich eine Annäherung an eine Pflanze sein kann. Herausgekommen ist ein Porträt, das den Graben zwischen dem Lebendigen und einer Wissenschaft ausmisst, die sich immer weiter von diesem entfernt. Dahl:

„Anschauung die sich ihrem Gegenstand anvertraut und meditierend überlässt, sieht durch die Schatten hindurch und richtet sich auf das Einmalige der Gestalt als einer Fügung von Möglichkeiten, deren jede in der Art der Metapher ein Grundprinzip des Lebens verwirklicht. Jede Anschauung, die das Erlebnis des Wesens im doppelten Sinne des Wortes zum Ziel hat, stößt auf Entsprechungen, Ähnlichkeiten, Gegensätze, Prinzipien und Strukturen immer anderer Verbindung, auf Signaturen der Mannigfaltigkeit.“

Das Ziel eines solchen „erlebenden Erkennens“, so Dahl, könne es nicht sein, diese „Erscheinungen aufs Allgemeine zurückzuführen und damit zu einer Art Musterkatalog zusammenschrumpfen zu lassen“.

Radikaler Perspektivwechsel

Dahl antwortet mit einem radikalen Wechsel der Perspektive:

„Es kann nicht gelingen, mit Zahlen und Fakten ein Verhalten zu bestimmen, dessen allererste Voraussetzung eine wissenschaftlich nicht begründbare Ehrfurcht vor der Unbegreiflichkeit und der Einmaligkeit ist. Es ist ein erster Schritt auf einen anderen Weg, wenn die Gestalten dieser Welt als unwiederbringliche Phänomene wahrgenommen werden, als Worte einer nicht enträtselten Sprache – weit jenseits einer historischen Betrachtung, der sie nur als Belegstücke für die Evolutionsgeschichte gelten. Jenseits auch einer ökologischen Perspektive, die das Ganze zu erfassen trachtet und doch verstrickt bleibt in das Fragen nach den Zwecken.“

Wenn Dahl Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen der Welt mit allen ihren Wesen einfordert, die, „wie auch immer, jedenfalls nicht durch unsere Schlauheit, zum Sein gekommen sind“, so wirft das einen Schatten auf die naive Wissenschaftsgläubigkeit aktueller Bewegungen und offenbart deren blinde Flecken. Ob er sich der Autor auf ungewöhnliche Weise dem Salbei annähert oder zu einer „Verteidigung des Federgeistchens“ ansetzt, er legt die Limitationen herrschender Paradigmen offen. Da Ökologie nicht das beschreibe, was sein soll, sondern allein das, was vor sich geht, denkt Dahl, wie es im Untertitel eines der Bücher zu Recht heißt, „über Ökologie hinaus“. Kurzerhand stellt er fest: „Mit der Ökologie allein kommt man nicht weit.“

Inseln in einem Ozean der Verwüstung

Lässt sich mit der Natur Frieden schließen? Sieht Dahl überhaupt einen Ausweg? Manchmal ähnelt ein solcher für ihn „einem verschlungenen Weg durch unbekanntes Gelände, in dem man nicht mehr Bäume umhackt, als nötig ist, um den Gang fortzusetzen“. Doch er bleibt skeptisch, ob eine Umkehr noch möglich ist. Selbst wo über die Ökologie hinausgedacht werde, bildeten sich „nur Inseln in einem Ozean der Verwüstung“, entstünden bestenfalls „verkleinerte Spiegelbilder einer Welt, wie man sie einrichten könnte, wenn man die Chance hätte, noch einmal ganz von vorne anzufangen“. Weithin vernehmbar töne „von den Inseln der Ruf nach Umkehr, und die da rufen, sind im Recht. Aber ihre Rufe sind das Echo künftiger Untergänge.“ Die „Tyrannei der Weltökonomie“ sei wohl begründet und die „Begehrlichkeit als Lebensprinzip allgemein anerkannt“. Die Freiheit, „auch die letzten Ressourcen dieser Welt zu verpulvern“, gelte „allenthalben als nicht aufgebbare Grundlage zivilisierten Lebens“.

Eine fundamentale Veränderung konnte Jürgen Dahl nur noch als radikales Scheitern denken: „Hoffnung kann sich nur noch darauf richten, dass jene Strukturen und Systeme, mit denen wir den Reichtum der Erde zuschanden machen und mit deren Hilfe wir die Völlerei zum Prinzip erheben konnten, zusammenbrechen, bevor sie uns ganz vernichten, – dass die mörderischen Industrien (…) mitsamt ihren Infrastrukturen scheitern, bevor die Erde ganz ausgeräubert und ihre Bevölkerung vergiftet ist.“


Bücher von Jürgen Dahl

Cover Jürgen Dahl, Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung

Jürgen Dahl
Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung

Über Ökologie und über Ökologie hinaus.
Mit einer Einführung von Manfred Kriener

Bibliothek der Nachhaltigkeit, Oekom Verlag, München 2020
ISBN 978-3-96238-184-4,
geb., 208 S.
22,00 Euro

Auch als E-Book erhältlich

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Cover Jürgen Dahl, Einrede gegen die Mobilität

Jürgen Dahl
Einrede gegen die Mobilität.
Der Anfang vom Ende des Automobils.
Einrede gegen Plastic.

Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020.
ISBN 978-3-946990-39-0

geb., 112 S.,
12,00 Euro

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