Die Zukunft gehört dem Umbauen. Nur so ist eine nachhaltigere Immobilienwirtschaft vorstellbar. Über Jahrhunderte war das Wiederverwenden von Vorhandenem etwas völlig Selbstverständliches. Erst mit dem industrialisierten Bauen im 20. Jahrhundert begann das große Wegwerfen. Wie also könnte ein fröhliches und kreatives Zeitalter voller perfekter, individuell abgestimmter Umbaulösungen aussehen?
von Florian Heilmeyer
Die Erhaltung, Umwandlung und Umnutzung bestehender Gebäude, das Wieder- und Weiterverwenden bereits zuvor genutzter Materialien, Bauteile und Infrastrukturen ist nicht nur eine der ältesten Aufgaben der Architektur – es ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleichzeitig ihre wichtigste und aktuellste. Dabei ist uns das Umbauen so vertraut wie es uns fern ist. Über Jahrhunderte war das Wiederverwenden von Vorhandenem etwas völlig Selbstverständliches. Wenn ein Gebäude tatsächlich überflüssig geworden war, dann wurde es sorgfältig in seine Einzelteile zerlegt, um so viel Materialien wie möglich wiederzuverwenden. Das große Wegwerfen begann erst mit dem industrialisierten Bauen im 20. Jahrhundert. Von eben dieser Wegwerfmentalität werden wir uns lösen müssen, wenn wir es ernst meinen mit der Bauwende.
Laut einem Bericht des UN-Umweltprogramms war die globale Bauindustrie 2020 für 9,95 Gigatonnen an CO2-Emissionen verantwortlich – das sind satte 38 Prozent aller vom Mensch verursachten Emissionen. Damit ist der Bausektor auf einem traurigen neuen Rekordstand angekommen. Allein die Herstellung des Zements für die 75 Milliarden Tonnen Beton, die jährlich verbaut werden, verursacht drei Milliarden Tonnen CO2 – rund dreimal so viel wie der gesamte Flugverkehr. Wäre Zement ein Land, es wäre nach China und den USA der drittgrößte Emittent. Diese Erblast wird uns noch eine Weile begleiten, selbst wenn es tatsächlich gelingen sollte, einige der größeren Hebel für eine nachhaltigere Bauwirtschaft – klimaneutralere Baustoffe, mehr Kreislaufwirtschaft, mehr Erhalt jenseits der reinen Denkmalpflege – jetzt rasch und entschlossen umzulegen.
Umbauen als kontinuierliches Gebäude-Update
Damit Umbauen den Vorzug vor Abriss und Neubau bekommen kann, müssten nicht nur ökonomische und politische Regeln angepasst werden, auch die Architektur muss sich verändern. Denn der Kanon der Architekturgeschichte ist seit dem 20. Jahrhundert vor allem ein Kanon aus Neubauten. An diesen konnten die Architekt*innen der Moderne ihre Ideen besonders gut demonstrieren. Neubauten waren die reine Lehre, Umbauten dagegen mussten Kompromisse finden. Auch an den Universitäten wurden im Entwurf immer Neubauten entwickelt. Dem sollten wir im 21. Jahrhundert eine neue Lehre entgegensetzen: Wir brauchen gut ausgebildete Expert*innen, die das Umbaupotenzial bestehender Gebäude und Strukturen einschätzen und auf seine Entwicklungsmöglichkeiten abklopfen können. Es muss darum gehen, den alltäglichen Gebäudebestand immer wieder mit den neuesten Technologien und Materialien kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu verbessern – so, wie man zum Beispiel seinen Computer ja auch ständig mit den neuesten Programmen versorgt. Nur durch regelmäßige Updates können unsere Häuser den sich ständig wandelnden Anforderungen gerecht werden. Anders gesagt: Architektur kann nur dann dauerhaft sein, wenn sie kontinuierlich verändert wird.
Abriss und Neubau sollten die Ausnahme sein, nicht die Regel
Sich für ein solch behutsames, ständiges Erneuern und Weiterbauen einzusetzen, bedeutet nicht, gegen jeden Neubau zu sein. Abriss und Neubau sollten aber die Ausnahme sein, nicht die Regel. Auch wäre eine neue Umbaukultur keine Lehre vom Verzicht, weil man sich die schönen Neubauten leider, leider nicht mehr leisten kann. Im Gegenteil: Experten wie das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung sprechen davon, dass die erforderlichen Anpassungen und Neuerungen in allen am Bau beteiligten Bereichen eine so gewaltige Innovationswelle auslösen müsste wie die industriellen Revolutionen – mit einem vergleichbaren Wirtschaftswachstum. In diesem Sinne bedeutet mehr Umbau auch nicht weniger Architektur, denn ein guter Umbau erfordert mehr Kreativität als ein vergleichsweise unterkomplexer Neubau: Er erfordert mehr Mut, mehr Auseinandersetzung mit dem Gewünschten und Geforderten, er erfordert eine aktivere Auseinandersetzung mit der Anwendung von Baurecht und Regularien, und er erzeugt vielschichtigere, lebendigere Gebäude.
Neue Ikonen fürs Umbauzeitalter
Fundierte theoretische Positionen zum Umbau gibt es seit den 1970er Jahren. Die meisten davon entwickelten sich in der westlichen Hemisphäre aus den Protestbewegungen gegen den Abriss ganzer Altstadtviertel, wie er in New York, Paris, London und Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg üblich geworden war. Das Umdenken hin zum Umbauen hat also längst begonnen. Und es ist kein Zufall, dass wir bereits eine ganze Reihe von glänzenden Ikonen des neuen Zeitalters bestaunen können: Im Jahr 2000 eröffnete das spektakuläre, aber auch von den Schweizer Architekten Herzog & de Meuron spektakulär umgenutzte alte Kraftwerk an der Themse, die Bankside Power Station, als Tate Modern. Ihm folgte 2002 in Paris das Palais de Tokyo, dessen Räume von den französischen Architekten Lacaton & Vassal wunderbar roh gelassen wurden und das Umbauen selbst zum Thema machten. Und in Berlin folgte 2009 das Neue Museum, dessen Ruine unter der Regie der britischen Architekten David Chipperfield und Julian Harrap zu neuem Leben erweckt wurde. Wie ein harmonischer architektonischer Dreiklang setzen diese Umbauten ein Zeichen für eine neue Kultur des Umbaus, die nicht mehr eine Zeitschicht bevorzugt und als die bedeutendere wiederherstellt, sondern die in der Vielschichtigkeit unserer Geschichte und Kulturen einen Wert und eine hohe gestalterische Qualität erkennt.
Vielfältige Ansätze, die vor Kreativität sprühen
Diesen Umbau-Ikonen sind in den ersten Jahren dieses noch jungen Jahrhunderts bereits tausendfach Projekte gefolgt. Die Ansätze sind wunderbar vielfältig und sprühen nur so vor Kreativität.
Eines meiner liebsten aktuellen Beispiele wäre der Umbau, die Sanierung, Restaurierung und Erweiterung des Museums „De Lakenhal“ im niederländischen Leiden durch die Architekten Happel Cornelisse Verhoeven (2014 – 2020). Hier wurde zuerst das über Jahrzehnte immer wieder umgebaute Ensemble mit Gebäudeteilen aus mehreren Jahrhunderten gründlich frei- und aufgeräumt. Der Umbau gipfelt dann in einem Erweiterungsbau, der an der Rückseite des Museums mit einer gänzlich neuen, dramatisch gezackten und mehrfarbigen Backsteinfassade nach außen tritt.
Man kann sagen, dass Happel Cornelisse Verhoeven in diesem Projekt wirklich die gesamte Bandbreite an Möglichkeiten des Umbaus ausschöpfen: leise Einfügungen, die Kunst der Fuge als Unterscheidung zwischen neuer und alter Zeitschicht sowie das Anfügen von etwas ganz Neuem, das sich selbstbewusst auf Augenhöhe zum historischen Bestand gesellt.
Umbau kann auch radikal sein, wie wir gerade bei zwei jüngsten Projekten sehen können: In Dresden haben die spanischen Architekten Nieto Sobejano ein historisches, barockes Wachhaus für das Archiv der Avantgarden komplett aushöhlen (die Innenräume waren schon nicht mehr im Original erhalten) und eine dramatische neue Raumskulptur aus Beton einbauen lassen. Das Projekt wurde jüngst als „Best of Best“ bei der ICONIC AWARDS: Innovative Architecture ausgezeichnet.
In Basel dagegen haben die Schweizer Architekten Buchner und Bründler für die neue Kunsthalle Baselland eine alte Lagerhalle mit einer zweigeschossigen Betonstruktur so ausgefüllt, dass ein Großteil des Bestandes erhalten bleiben konnte, aber ein völlig neues Innenraumgefüge bekommen hat.
Willkommen im Umbauzeitalter
Die Möglichkeiten, wie man aus Alt und Neu eine spannungsreiche architektonische Balance herstellt, sind unendlich. In Spanien sprechen die Architekten Flores y Prats vom „Second-Hand-Prinzip“ ihrer Architektur, in Frankreich erklärt das junge Kollektiv BAST selbstbewusst die „Rotzigkeit“ des Unfertigen zum Prinzip. In England werden die Umbau- und Reuse-Spezialisten von Assemble mit dem renommierten Turner-Kunstpreis ausgezeichnet, und in Deutschland experimentieren das Kollektiv cityförster oder das Innenarchitekturbüro LXSY in Berlin mit Methoden, ob und wie eine hundertprozentige Recyling-Architektur in der Praxis umgesetzt werden kann – und wie aus der Ethik eine Ästhetik zu gewinnen ist.
Natürlich sollte man sich von all dieser wunderbar quirligen, kreativen und weltumspannenden Lebendigkeit beim Umbau nicht zu sehr täuschen lassen. Die vorherrschende Praxis der Bauwirtschaft ist weiterhin Abriss und Neubau. Für ein echtes Umsteuern ist es noch ein weiter Weg. Aber: Dr Anfang ist gemacht. Wir dürfen durchaus optimistisch in die Zukunft schauen, wenn wir das Begonnene fortführen. Das Umbauzeitalter kann ein fröhliches und kreatives Zeitalter voller perfekter, individuell abgestimmter Umbaulösungen werden. Wir müssen es einfach nur entsprechend gestalten. Oder um mit einem wiederverwendeten Zitat von Abraham Lincoln zu enden: Der beste Weg, die Zukunft vorherzusagen, ist, sie selbst zu gestalten.
ICONIC AWARDS 2024
Nieto Sobejano Arquitectos und weitere herausragende Umbauprojekte wurden mit den ICONIC AWARDS 2024: Innovative Architecture ausgezeichnet.
Auf Social Media Teilen
Über den Autor
Florian Heilmeyer, geboren 1974, lebt und arbeitet mobil, aber überwiegend in Berlin. Er studierte Architektur in Berlin und Rotterdam, und veröffentlichte während des Studiums erste Texte. Er arbeitet seitdem als Kritiker, Journalist, Redakteur, Berater und Kurator am Forschungsfeld Architektur Gesellschaft und Stadt. Er schreibt für die Fach- und Tagespresse weltweit, ist Herausgeber und Mitherausgeber zahlreicher Fachbücher und war an zahlreichen Ausstellungen beteiligt, darunter zweimal am deutschen Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig. Aktuell begleitet er die Ausstellung „Umbau“ von Gerkan Marg und Partner auf ihrer Welttournee.”