Das Automobildesign steht 2020 an einem hochspannenden Punkt. Lange nicht war so viel Bewegung in der Branche, getrieben durch Klimawandel, neue Player auf dem Markt und einen kräftigen Technologieschub im automotive Design.
Von Nicolas Uphaus.
Abgesagt. Der Genfer Autosalon 2020 war die erste komplett digitale Automobilmesse. Die Absage der Veranstaltung aufgrund des Coronavirus zwang die Hersteller, ihre Produktpräsentationen als Livestream ins Internet zu verlegen. Der herausfordernde Test zeigte, wie gut die Unternehmen die digitale Ad-hoc-Kommunikation jeweils beherrschen. Auch wenn die Menschen sich weiterhin persönlich treffen möchten und beeindruckende Studien und Neuvorstellungen als reale Objekte vor sich sehen wollen, ist das Format der digitalen Messe eine hochinteressante Ergänzung, die eine weitaus größere Zielgruppe erreichen kann. Der Virtual Press Day 2020 ist ein denkwürdiges Ereignis zum 90. Jubiläum der traditionellen Automobilschau am Genfer See.
Blick nach vorn
„Die Zeit klassischer Automobilhersteller ist vorbei“, verkündete VW-CEO Herbert Diess am 16. Januar 2020 beim Global Board Meeting. „Die Welt ist in Bewegung. Politisch wie technologisch leben wir in einer unglaublich dynamischen Zeit. Eine Zeitenwende steht vor uns – von der Dimension der industriellen Revolution. Und Volkswagen steht mitten im Sturm der beiden größten Transformationsprozesse: Der Klimawandel und der damit verbundene Innovationsdruck zum emissionsfreien Fahren. Und die Digitalisierung, die das Produkt Automobil grundlegend verändert.“ Herbert Diess bringt auf den Punkt, was die Automobilunternehmen weltweit bewegt und zeigt eine inhaltliche Richtung auf, die das Automotive Design in den kommenden Jahren noch stärker prägen wird.
Und Diess wird noch konkreter: „Das Automobil wird in Zukunft das komplexeste, wertvollste, massentaugliche Internet-Device.“ Wie dieses Device aus Sicht von Volkswagen aussehen und funktionieren wird, zeigt der Konzern mit einer komplett neuen Produktgeneration, die mit dem vollelektrischen Kompaktwagen ID.3 und dem ID.4 als SUV starten wird. Die beiden Fahrzeuge repräsentieren eine Generation smarter Elektroautos, mit denen Volkswagen sich neu erfinden möchte. Parallel zur Speerspitze der neuen Welt gibt es noch den Massenmarkt der alten Welt: Mit dem Golf 8 wird eine lange Erfolgsgeschichte auch gestalterisch schlüssig fortgeschrieben.
Fahrspaß und Sicherheit
Spur halten, Bremsen, Einparken – Fahrassistenzsysteme bis zur Stufe 2 sind inzwischen selbst bei Kleinwagen zu haben. Die Menschen gewöhnen sich Schritt für Schritt daran, dass ihr Auto sich selbstständig bewegen oder gewisse Fahrmanöver ausführen kann. Doch bevor private Wagen autonom fahren, kommt zunächst eine neue Produktkategorie an die Reihe – die Shuttles für den öffentlichen und halböffentlichen Gebrauch.
Diese Klasse startet mit einer eigenen Designtypologie: Hoher und annähernd symmetrischer Aufbau, verkleidete Radkästen, seitliche Schwenktüren für einen komfortablen Zustieg, Platz für 4–16 Personen. Zu den Herstellern zählen zum Beispiel VW mit dem SEDRIC, Jaguar Land Rover mit dem Project Vector, der e.GO Mover oder Cruise, eine Tochterfirma von General Motors. Die Anmutung der Fahrzeuge verbindet die reduzierte und langlebige Gestaltung von öffentlichen Verkehrsmitteln mit emotionalerem und zukunftsorientiertem Automobildesign. Eine spannende neue Fahrzeugkategorie, die Schritt für Schritt Einzug in das öffentliche Straßenbild halten könnte.
Das rollende Wohnzimmer
Je autonomer das eigene Fahrzeug, desto privater der Innenraum. Die Automobilindustrie stellt sich darauf ein, dass Nutzer noch mehr Zeit in Fahrzeugen verbringen. Entertainment, Wohlfühlen und Individualisierung werden wichtiger und optische Ruhe kehrt ein. Wo bisher noch 40 einzelne Schalter, Rädchen und Knöpfe verteilt sind, fungieren zwei Displays als flexibles Interface, das alle Funktionen situativ abbildet.
Studien wie der Mercedes-Benz AVTR zeigen gar ein komplett in das Interior integriertes Interface, in das selbst Sitztextilien einbezogen werden. Der komplette Innenraum der Studie wird Interface und Display. Wie die Haut eines Lebewesens ziehen sich berührungsempfindliche Oberfläche durch das Interior.
Doch auch bei aktuellen Serienmodellen schreitet die Individualisierung des Innenraums voran, insbesondere mit Hilfe von Licht. VW nennt es beim Golf 8 „Innovision Cockpit“: die Fahrerin oder der Fahrer werden automatisch erkannt und alle adaptierbaren Parameter stellen sich auf die voreingestellten Präferenzen ein.
Privat geht es auch im Honda e zu: Die Rückbank des freundlichen urbanen Elektrofahrzeugs erinnert an ein schlichtes Loungesofa. Die Gestaltung des gesamten Honda e kommt reduziert, smart und unaufgeregt daher. Front und Heck folgen mit einem zentralen schwarzen Balken und runden Rückleuchten bzw. Scheinwerfern einem konsequenten Designansatz. Mit den einfachen Formen möchte Honda an den ersten Civic von 1972 anknüpfen und einen Ruhepol in der quirligen Großstadt schaffen. Wo beim ersten Civic selbstverständlich der Kühlergrill saß, befindet sich beim Honda e eine Einheit aus Sensoren und Kameras. Eine Parallele zur BMW-Niere beim Concept i4, die ebenfalls neue Elemente für das autonome Fahren integriert.
Angekommen
Als BMW 2010 die Marke BMW i ins Leben rief, wurde damit ein Experimentierfeld für Elektromobilität geschaffen, das zehn Jahre später mit der Vorstellung des Concept i4 endgültig in die Marke BMW integriert ist. „Mit dem BMW Concept i4 ist die Elektrifizierung im Kern der Marke BMW angekommen“, so Adrian van Hooydonk, Leiter BMW Group Design.
Die Studie gibt einen realistischen Ausblick auf das Serienfahrzeug i4, das 2021 auf den Markt kommen soll. Sofort ins Auge fällt die große blau umrandete Niere, die statt Kühlung jetzt smarte Sensorik bereitstellt. Die durchgängige Farbgebung im Interior in Hellgrau und Kupfer schafft eine schlüssige Verbindung zum Exterior, dürfte in dieser Ausprägung allerdings für die Studie reserviert sein. Einen deutlichen Unterschied zu aktuellen Serienfahrzeugen weist auch das Interface auf: Statt 40 Dreh- und Drückschaltern schwebt nur noch ein kombiniertes Element mit zwei Bildschirmen über dem Armaturenbrett. Zusammen mit dem Concept i4 stellte BMW auch sein neues Logo vor, das nun in einer ähnlichen Reduziertheit wie bereits das VW-Emblem vorliegt.
Gemeinsame Gene
Zum Erfolgsfaktor Flottendesign sind jüngst einige aktuelle Beiträge vorgestellt worden: Auch die E-Klasse trägt jetzt das neue Mercedes-Familiengesicht. Mit der Aktualisierung seiner Oberklasse optimiert der Premiumhersteller sein Flottendesign und erreicht eine noch schlüssigere Integration der E-Klasse. Das Fahrzeug kommt durch eine größere Nähe zur A-Klasse jünger daher; der neue Kühlergrill trägt seinen Schwerpunkt (wie das kleinere Modell) nun unten statt zuvor oben und lässt das Auto somit flacher und sportlicher wirken.
Ebenfalls auf eine stärkere Integration in das Familiendesign setzt Land Rover bei der Erneuerung seiner Ikone Defender. Kam das Original die vergangenen Jahrzehnte sehr ursprünglich und kantig daher, schafft die Neuinterpretation einen gelungenen Transfer der bekannten Qualitäten und der charakteristischen Formsprache in die Gegenwart. Kraft und Robustheit sind auf den ersten Blick sichtbar und schaffen das Vertrauen, mit diesem Fahrzeug auf jedem Terrain durchzukommen.
Eine spannende Markenpflege zeigt der neue Seat Leon: Er tritt mit weich modellierten Flächen und Schwüngen an, die zuvor nicht im Vokabular der Spanier waren. Eine wichtige Differenzierung der Formsprache, insbesondere als Positionierung zu den anderen Konzernmarken Škoda und VW. Kontrastiert werden die weichen Flächen durch scharfe Sicken auf der Motorhaube und an der Flanke, die am Heck wieder aufgenommen werden und mit dem durchgehenden LED-Band der Rückleuchten verschmelzen.
Wegbereiter
Die aktuelle dynamische Entwicklung der Automobilbranche zeigt deutlich auf, was die Aufgaben und der Stellenwert von Automotive Design sind: Vorausdenken, sensibilisieren, Optionen aufzeigen und dann in der Praxis überzeugen, begeistern und funktionieren.
Exzellentes Automotive Design schlägt dabei den großen Bogen vom ausbalancierten Flottendesign bis hin zur Auswahl nachhaltiger Materialien für das Interior. Um die vielfältigen Geschichten glaubwürdig und begeisternd erzählen zu können, kommt hohes gestalterisches Können zum Einsatz, das bis ins kleinste Detail reicht und zufriedene Nutzer sowie Erfolg im Markt möglich macht.
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