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Barrierefrei, benutzerfreundlich, intuitiv: Inclusive Design etabliert Vielfalt als Norm und entwickelt Lösungen, die den Alltag für alle Menschen zugänglicher und lebenswerter machen. So trägt es zur Förderung einer inklusiven Gesellschaft bei, in der niemand ausgegrenzt wird.

von Oliver Herwig

LAVA ist ein Pflegeduschstuhl für Personen mit altersbedingten Einschränkungen, der durch Funktionalität und Optik barrierefrei ihre Autonomie fördert. Er wurde 2024 beim Hessischen Staatspreis Universelles Design ausgezeichnet. | Fotos: Lola Behrens

Helga K. beugt sich über die Tageszeitung. Zeile für Zeile schiebt sie ein Prisma über die Nachrichten, hält inne, seufzt. Die 88-Jährige sieht schlecht, eine Stoffwechselstörung lässt sie allmählich erblinden. „Es ist unglaublich mühsam“, sagt die einst begeisterte Leserin und Innenraumgestalterin. Ein Tablet benutzt sie nicht, auch den Sprung zum Handy habe sie verpasst, sagt Helga K. mit leisem Bedauern. Aber immerhin: Sie lebt noch in den eigenen vier Wänden – und das selbstständig. Jeder Tag bringt dafür neue Herausforderungen: Einkaufen trotz winziger Schriften, Verpackungen, die kaum zu öffnen sind und Haushaltsgeräte, die offensichtlich für Muskelmänner entworfen wurden, beschäftigen die Ästhetin schon lange. Reha-Geräte wie Rollatoren lehnt Helga K. ab. „Ich habe doch nicht mein ganzes Leben auf gutes Design geachtet, um jetzt graubeige Monster vor mir herzuschieben“ , sagt sie.

Die Seniorin ist nicht allein mit ihren Problemen, fühlt sich aber von einer Industrie allein gelassen, die einen weiten Bogen um Senior*innen macht. Dabei spricht die Statistik eine andere Sprache: Deutschland ergraut. Bereits heute leben rund 18,4 Millionen Menschen über 65 zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen. Sie machen rund 22 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, Tendenz: steigend. 2035 werden es wohl 27,4 Prozent sein. Dieser Trend ist unumkehrbar. Jungen, die 2020 geboren wurden, dürften im Schnitt wohl 78,5 Jahre alt werden, Mädchen sogar 83,4 Jahre. Damit hat sich die Lebenserwartung seit 150 Jahren „mehr als verdoppelt“, erklärt eine aktuelle Statistik.

„Ich habe doch nicht mein ganzes Leben auf gutes Design geachtet, um jetzt graubeige Monster vor mir herzuschieben.“


– Helga K. (88), Innenraumgestalterin

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Gestalten für alle

Doch eigentlich verstellt der Blick auf die Boomer und die nachfolgende Generation Z die ganze Dimension des gesellschaftlichen Wandels. Einerseits ist keine Altersgruppe „in sich heterogener als die Gruppe der Alten“, wie der Berliner Soziologe Hartmut Häußermann feststellte, andererseits seien Senioren Teil einer diversen Gesellschaft unterschiedlicher Herkünfte und Kulturen, die sich in unserer Alltagswelt nur unzureichend abbildet.

Diversität ist nicht mit Sprachregelungen alleine aufgefangen, sie braucht Menschen, die andere in ihrem Anderssein wahrnehmen, akzeptieren und auch dafür einstehen, dass sie trotz Behinderungen an der Gesellschaft teilnehmen können. Das beginnt bei leichter Sprache, eindeutigen Symbolen, Aufzügen neben Treppen und endet bei Einstellungen. Wer sich noch nie das Bein gebrochen hat, kann trotzdem versuchen, sich in diese Lage hineinzuversetzen. Wer noch nie mit einem Kinderwagen unterwegs war, kennt die vielfältigen Barrieren und Einschränkungen zwar nicht, wenn der Fahrstuhl zur U-Bahn plötzlich ausfällt – aber sie oder er kann helfen. 
Design hilft, diesen Perspektivenwechsel vorzunehmen und zu üben. Denn: Menschen mit Behinderungen machen einen bedeutenden Teil unserer Gesellschaft aus. Wir brauchen eine adaptive Dingwelt, die auf unterschiedliche Bedürfnisse reagiert – und wir brauchen gesellschaftliche Systeme, die Menschen mit Einschränkungen nicht aussortieren und aus dem Spiel nehmen. Barrierefreiheit ist eben keine Sache von Paragraphen, sie ist vor allem Einstellungssache. Partizipation muss, wie Nachhaltigkeit, zum Standard werden und damit ein Teil der Ausbildung von Designer*innen.

Neue Einfachheit

Einfachheit bleibt der Schlüssel. Intuitive und klare Abläufe sind essenziell, besonders im Hinblick auf Inklusion. Gestaltung sollte sich von rein marketinggetriebenen Ansätzen lösen und auf breite Nutzbarkeit setzen. „Barrierefreiheit ist nicht nur ein gesetzlicher Standard, sondern eine Chance, das Nutzererlebnis für alle zu verbessern“, betonte Jörg Heidrich von Robert Bosch auf der Konferenz „Gesellschaft gestalten! Soziale Nachhaltigkeit durch Design“ des German Design Council – Rat für Formgebung. Das zeigt: Barrierefreiheit ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern eine strategische Möglichkeit, um Design zu optimieren.

Doch Design allein reicht nicht, wenn es nicht angenommen wird. Es geht um Menschen, die sich angesprochen fühlen müssen. Selbst adaptives Design ist nur ein Teil der Aufgabe. Die andere stellt eine simple Pyramide hin zu Akzeptanz und Lebensqualität dar, wie es beispielsweise das Generation Research Program (GRP) an der LMU München im Sinn hatte. Die Münchner unterscheiden vier Stufen: Accessibility – Barrierefreiheit als Basis, Usability – Benutzerfreundlichkeit; Acceptability – Stigmafreiheit und Marktaktzeptanz sowie schließlich: Joy of Use – Ästhetik und Emotionalität. „Nachhaltige Lösungen können nur dann entstehen, wenn wir die Bedürfnisse der Nutzer*innen über das Offensichtliche hinaus verstehen“, erklärte Tobias Stuntebeck von Whitecane, der ebenfalls auf der Konferenz über innovative Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen sprach.

Raus aus der Nische

„Wir brauchen Räume, in denen sich Menschen wohlfühlen, und Dinge, die ganz leicht und selbstverständlich zu nutzen sind“, sagt Carolin Pauly, Geschäftsführerin des Instituts für Universal Design. Pauly betont, dass Universal Design nichts mit Gestalten „für die Alten“ zu tun hat: „Wir wollen das Thema rausholen aus der Nische“, erklärt sie. Raus aus dem Dunstkreis von Pflege und Kompensation. Universal Design heißt, ganze Lebenswelten und Services für die Vielfalt der Gesellschaft zu entwickeln. Ob es „Inclusive Design“ oder „Design for All“ heißt, ist dabei nebensächlich – entscheidend ist die gesellschaftliche Wirkung.

Objekte, die Menschen diskriminieren, sind out. Doch oft assoziieren Nutzerinnen große Tasten, überdeutliche Schriften oder klobige Designs mit „Schwäche“. Hier liegt ein enormes Potenzial für Gestalterinnen, Produkte zu entwickeln, die Selbstbestimmung und Teilhabe fördern. Gerade in einer immer diverser werdenden Welt ist es wichtig, Orientierung zu schaffen und die Bedürfnisse aller von Anfang an einzubeziehen – für Produkte, Services und Umgebungen, die wirklich inklusiv sind.

„Barrierefreiheit ist nicht nur ein gesetzlicher Standard, sondern eine Chance, das Nutzererlebnis für alle zu verbessern.“


Jörg Heidrich von Robert Bosch

Besser zusammen

Friede, Freude, Eierkuchen? Nein, es geht um keine Utopie von und für Gutmenschen, wohl aber um berechtigte Anliegen vieler. Eine solche Welt universeller, inklusiver Gestaltung dürfte klarer werden, einfacher und sicherer. „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich“, sagt Dieter Rams. Es geht darum, Funktionen klar, intuitiv und für alle verständlich zu gestalten. Ein gelungenes Beispiel ist das ergonomisch gestaltete Brotmesser, das dank seiner gekippten Klinge nicht nur Menschen mit eingeschränkter Beweglichkeit hilft, sondern auch für alle ein komfortableres Nutzungserlebnis schafft. Von dieser neuen Einfachheit profitieren idealerweise alle.

COOK/ABILITY von Marie Kurstjens geht nochmals darüber hinaus und bietet eine individualisierbare Serie von Küchengeräten: Schneidemesser, Rührer und Spachtel, deren Griff sich anpassen und austauschen lässt. Per App werden Griff und Küchenwerkzeuge kombiniert. Die Ziele sind vielfältig: bessere Erreichbarkeit, größere Selbständigkeit und mehr Inklusion. Dass dies nicht nur körperliche Funktionsstörungen umfasst, liegt auf der Hand.

COOK/ABILITY von Marie Kurstjens ermöglicht ein selbstbestimmtes Kochen im Alltag für Menschen mit Tetraplegie | Fotos: Marie Haefner, © Marie Kurstjens

Lola Behrens entwarf mit LAVA einen Pflegeduschstuhl für Barrierefreiheit und Autonomie. Inklusive Produktgestaltung vor dem Hintergrund des demografischen Wandels in einer kraftvollen, farbigen Formensprache. Man sitzt auf einem breiten Holm des mehrfach gewundenen Rohres, das das Wasser leicht ablaufen lässt. Die Details überzeugen: Der Hygieneausschnitt ist so gestaltet, dass der Intimbereich im Sitzen gut gepflegt werden kann. Die verlängerten Armlehnen erleichtern das Aufstehen. Klare Formen erleichtern die hygienische Reinigung des Duschstuhls. Duschkopf und Seifenhalter sind seitlich angebracht. Obwohl der Schwerpunkt auf Rehabilitationsanwendungen liegt, ist der Stuhl auch für Menschen mit Bewegungseinschränkungen nach Operationen oder während der Schwangerschaft wertvoll.

Wie können wir Lebensmittelverschwendung verhindern?
,Vorkoster‘ von Amir-Moazami ist eine Verpackungsösung, die den Reifegrad von Lebensmitteln anzeigt. | © Kimia Amir-Moazami

Genau darum geht es: Inklusion zu ermöglichen und Lösungen so anzulegen, dass sie möglichst viele Bedürfnisse erfüllen – ohne großen Mehraufwand. Einfache und intelligente Lösungen wie etwa Vorkoster, eine Verpackung, die den Reifegrad von Lebensmitteln anzeigt. „Wie wäre es, wenn Geschirr den Zustand der Lebensmittel signalisieren könnte?“, fragt Amir-Moazami. Die von ihm entwickelte pH-sensitive Folie zeigt an, wenn eiweißhaltige Lebensmittel verderben und warnt über ihre wechselnde Farbe, dass sie nicht mehr gegessen werden sollten. Die Folie ist wiederverwendbar und muss nach Gebrauch nur neutralisiert werden. Warum kann ein solcher Vorkoster nicht Standard sein in der Lebensmittelindustrie? Ein Gewinn für alle. Wie auch i-si – Easy-to-Openvon Hélène Fontaine, die unhandlichen Verpackungen den Kampf angesagt hat. Stattdessen bietet ihre Schalenverpackung mit hervorstehendem Boden und verlängerter Lasche der Deckfolie eine Verpackung, die sich auch mit wenig Kraft und sogar einhändig öffnen lässt.

Auf solche Lösungen hat die Welt gewartet. Sie sind einfach gut für alle. Das ist der Kern von Inclusive Design.

Kinderleicht zu öffnen: Hélène Fontaine sagt mit ,i-si – Easy-to-Open‚ unhandlichen Verpackungen den Kampf an. | © Hélène Fontaine

Veranstaltungen und Auszeichnungen zum Thema:

Die hybride Veranstaltung „Gesellschaft gestalten!” fand am 6. Dezember in der Evangelischen Akademie Frankfurt statt und wurde per Livestream übertragen.

Gesellschaft gestalten!

Die Konferenz „Gesellschaft gestalten!” des German Design Council – Rat für Formgebung verbindet visionäre Ideen mit konkreten Lösungen und bietet Impulse für Designer*innen, Unternehmer*innen und alle, die an der Schnittstelle von Gestaltung und sozialer Verantwortung arbeiten.

Hessische Staatspreis Universelles Design – Gewinner 2024, Impressionen der Preisverleihung: © Manuel Debus

Hessischer Staatspreis Universelles Design

Der Hessische Staatspreis Universelles Design zeichnet bundesweit Unternehmen aller Größen, Branchen, Start-Ups, Designende, Architektur- und Ingenieurbüros, kreative Köpfe, gemeinnützige Vereine und Studierende aus, die dazu beitragen unsere Zukunft ästhetisch, nachhaltig und inklusiv zu gestalten.

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Über den Autor

Dr. Oliver Herwig, Journalist und Moderator. Designexperte für AD, FR, FAZ QUARTERLY, nomad, ndion, NZZ und SZ; Designtheoretiker an der Kunstuniversität Linz sowie der HfG Karlsruhe. „Karl-Theodor-Vogel-Preis für herausragende Technik- Publizistik“, COR Preis „Wohnen und Design“. Arbeitsstipendien in England, USA und Norwegen. Wissenschaftsjournalist in Tübingen, Gastredakteur bei *wallpaper in London, Editor-at-Large von nomad. Autor von rund drei Dutzend Büchern zu Architektur und Design, darunter zu Michele De Lucchi, fliegenden Bauten und Entertainment-Architektur.


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