Swatch-Uhren, Freitag-Taschen und die Helvetica-Schrift: Zum 150-jährigen Jubiläum inszeniert das Museum für Gestaltung Zürich in der Dauerausstellung „Swiss Design Collection“ einen Teil seiner 580.000 Sammlungsobjekte neu. ndion sprach mit Museumsdirektor Christian Brändle über die Besonderheiten der Sammlung, das Erzählen von Geschichten durch Inszenierung und die Rolle von Instagram im Museum.
Interview von Andrea Eschbach

Herr Brändle, was ist Ihrer Meinung nach heute die wichtigste Aufgabe eines Designmuseums?
Christian Brändle: Alles ist Design. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, welche Bedeutung Design in unserem Alltag hat. Die Kleider, die wir tragen, das Tram, in das wir steigen, das Buch, das wir lesen – all das ist gestaltet worden.
Design ist die DNA unserer Gesellschaft. Unsere Aufgabe als Museum ist es, die Relevanz und die Qualität sichtbar zu machen, so dass Menschen eine Entscheidung treffen können. Und damit meine ich nicht, dass das immer Design in Spitzenqualität sein muss. Nein, es kann auch genau das Gegenteil sein – aber mit einer bewussten Entscheidung dafür. Wir haben dabei eine aufklärerische Mission und wollen dabei gleichzeitig auch lustvoll sein. Die Menschen heute möchten im Museum etwas erleben, etwas mitnehmen können.
Ist ein Museum nicht vielmehr Ort der Erinnerung als Ort der Zukunft?
Wir haben eine Brückenfunktion. Einerseits verbinden wir die Vergangenheit mit der Zukunft, andererseits schlagen wir eine Brücke von einem Laien- zu einem Fachpublikum. Unser Job ist es, an den Rändern aktiv zu sein. Die Studierenden und die Profis kommen sowieso. Und natürlich befragen wir nicht nur die Vergangenheit, sondern blicken auch nach vorne. Im Herbst eröffnen wir als eine der Jubiläumsaktivitäten die Ausstellung „Museum of the Future“, wo es genau darum geht, wie man historisches Material zum Leben erwecken kann. Das Ausstellen von Objekten erfordert stets einen Balanceakt zwischen den beiden zentralen Aufgaben eines Museums: dem Bewahren und dem Vermitteln. Dadurch sind die Exponate für Besucher*innen oft nur eingeschränkt erfahrbar. Die Ausstellung erforscht die Potenziale der Digitalisierung und der KI für das Museum der Zukunft.
„Design ist die DNA unserer Gesellschaft. Unsere Aufgabe als Museum ist es, die Relevanz und die Qualität sichtbar zu machen, so dass Menschen eine Entscheidung treffen können.“
– Christian Brändle, Direktor des Museums für Gestaltung Zürich

Das Konzept scheint aufzugehen, denn Ihr Museum hat gerade in den letzten Jahren Publikumsrekorde verzeichnet.
Ja, 2019 besuchten so viele Menschen wie noch nie das Museum für Gestaltung. Auch die vielen Ausstellungen 2024 waren ein echter Publikumsmagnet. Generell haben Museen wieder grossen Zulauf. Sie haben es geschafft, sich vom Monolog zum Dialog zu öffnen. Dieser staubige monodirektionale Ansatz, in dem ein Kurator auf einem Sockel den Besuchenden die Welt erklärt, das ist vorbei. Wir bewegen uns in einer Edutainment-Branche und versuchen, Unterhaltung mit Bildung zu kombinieren. Wir setzen wie die meisten Museen heute darauf, das Publikum am Geschehen teilhaben zu lassen.
Was hat sich hier geändert in den vergangenen 150 Jahren?
Ende des 19. Jahrhunderts wurden in ganz Europa Sammlungen zu Graphik und Kunstgewerbe angelegt. Vorreiter war das 1852 gegründete Victoria & Albert Museum in London. Hier in Zürich folgten wir – ganz Swiss Style mässig – erst 23 Jahre später. Das Gewerbemuseum Zürich wird 1875 mit dem Ziel eröffnet, Kunsthandwerk und angewandte Kunst zu fördern und als Lehrstätte für Design und Kunsthandwerk zu dienen.
Das Museum für Gestaltung erstreckt sich heute über drei Standorte. Im Jubiläumsjahr liegt der Schwerpunkt auf dem jüngsten Standort, dem Toni-Areal. Wieso?
Am Standort Toni-Areal haben wir seit seiner Eröffnung 2014 die bis dahin auf verschiedene Gebäude verteilten Sammlungsbestände endlich unter einem Dach und unter idealen konservatorischen Bedingungen vereinen können. Die Sammlungen waren in den vergangenen 150 Jahren stetig gewachsen – immer abhängig von den Launen der Zeit, von den Entwicklungen in der Lehre, von Opportunitäten wie Donationen.
Nun, knapp 11 Jahre später, stellen wir unsere vier Sammlungen – Grafik, Industriedesign, Plakat und Kunstgewerbe – noch mehr ins Zentrum. Hier im Toni-Areal steuern wir mit dem Archiv, der Ausstellungsebene und dem Medienzentrum einen richtigen Tanker an Design-Wissen, der sich über sechs Stockwerke hinweg erstreckt.
Ist die neue Dauerausstellung „Swiss Design Collection“ ein Best-of der Sammlungen?
Wir sind die wichtigste Sammlung für Schweizer Design und besitzen mit über 580.000 Objekten auch die grösste internationale Designsammlung der Schweiz. Ein beträchtlicher Teil davon schlummert in den Archiven. Rund 2.500 Objekte aus den Bereichen Grafik, Typografie, Plakatgestaltung, Textil, Industriedesign und Kunstgewerbe haben wir nun neu inszeniert.

„Wir bewegen uns in einer Edutainment-Branche und versuchen, Unterhaltung mit Bildung zu kombinieren. Wir setzen wie die meisten Museen heute darauf, das Publikum am Geschehen teilhaben zu lassen.“
– Christian Brändle, Direktor des Museums für Gestaltung Zürich

Eine riesige Aufgabe für die Kuratorinnen, eine Auswahl zu treffen.
Ja, unsere vier Kuratorinnen haben die Objekte in einer Mischung aus Subjektivität und Kompetenz zusammengetragen. Ein grosses Anliegen war uns dabei, dass Binnenausstellungen entstehen können. In den Schubladenvitrinen kann man so eine kleine Adrian Frutiger-Ausstellung öffnen, und diese in einer Schublade daneben gerade mit seinem typographischen Gegenspieler Wolfgang Weingart vergleichen. So lassen sich mit einfachen Mitteln Geschichten erzählen. Gleichzeitig ist es auch ein konservatorischer Trick, denn so lassen sich diese Objekte, die das Dunkel lieben, gut schützen.
Was macht die Auswahl so besonders?
Wir sammeln nicht nur die Highlights, sondern immer auch den Prozess dazu – wie zum Beispiel bei Josef Müller Brockmann, der Leitfigur der Schweizer Grafik der 1950er und 1960er Jahre. Hier kann man an den Exponaten ablesen, wie er sich bei einem Auftrag für das Erscheinungsbild des niederländischen Kaufhauses De Bijenkorf an dieses graphische Thema heranpirscht, wie er eine Figur entdeckt, die ihn interessiert und wie er diese dann Schritt für Schritt übersetzt in ein Logo. So kann der Besucher ganz einfach den Designprozess nachvollziehen. Dieses Interesse für Prozesse unterscheidet uns auch von anderen Designmuseen. Dies ist natürlich auch motiviert aus dem Wesen unserer Sammlung als Teil der Zürcher Hochschule der Künste, mit der wir den Campus teilen. Aber es ist auch für das Publikum viel interessanter, auch die erst halbfertigen Dinge studieren zu können – gerade heute im digitalen Zeitalter.
Ob Typografie, Logodesign, Schriftgestaltung und Corporate Design: Der Bereich Grafik ist in der Schweiz von grosser Bedeutung. Wie bleiben Sie da beim Sammeln am Ball?
Typografie und Schriftgestaltung aus der Schweiz sind unser wichtigster Exportschlager – und entsprechend hat dieser Bereich einen grossen Stellenwert in unserer Sammlung. Die Grafik- und die Plakatsammlung beherbergen unzählige Beispiele von Schriftanwendungen, die Grafiksammlung zusätzlich auch Schriftmuster und Schriftentwürfe bekannter Gestalter wie Adrian Frutiger, Walter Käch oder Walter F. Haettenschweiler. Auch hier schauen wir nach vorne, beispielsweise hat unsere neue Plattform eFont.ch das Ziel, digitale Schriften zu visualisieren, die auf der Grundlage analoger Schriftmuster aus den Sammlungen entwickelt wurden. Diese digitalen Schriften sind entweder originalgetreue Rekonstruktionen und Erweiterungen der originalen Vorlagen oder freie, davon inspirierte Neukreationen. Momentan sind es 15 Schriften, die zugänglich sind, wir füttern das aber nach und nach.
Die heutige Sammlungstätigkeit konzentriert sich zeitlich vor allem auf Objekte vom Beginn der Industrialisierung bis in die Gegenwart. Neben Werken aus der Schweiz werden auch internationale Arbeiten berücksichtigt. In welchem Masse?
Wir können Industriedesign unmöglich durchgehend international sammeln, sonst würde das Archiv aus allen Nähten platzen. Die Plakatsammlung ist jedoch dezidiert international ausgerichtet, die Designsammlung dagegen hat einen Schweiz-Fokus, Grafik ist ein Mix. Der Anteil Helvetica beträgt insgesamt rund 75 Prozent.
Wie wird die Auswahl aus internationalen Objekten getroffen?
Wir sammeln um Familien herum, Anknüpfungspunkte stehen für uns im Zentrum. So besitzen wir zum Beispiel viele japanische Umweltschutzplakate. Wenn wir ein neues Plakat angeboten bekommen, das in diesen Kosmos passt, nehmen wir es mit grosser Freude auf, ansonsten ist die Chance dafür nicht sehr gross. Diese Familien oder Schwerpunkte sind oft kunsthistorisch begründet, so beispielsweise unsere Familien des tschechoslowakischen Filmplakats oder des kubanischen Revolutionsplakats. Wir freuen uns besonders, wenn gleich eine ganze Familie einziehen will. So haben wir vor ein paar Jahren eine ganze Sammlung ukrainischer Gesundheitspräventionsplakate aus den 1960er Jahren aufgenommen – ein tolles Ensemble, bei dem man immer noch den Einfluss der russischen Rosta-Fenster aus den 1920er Jahren spürt.



Im Bereich Industriedesign würden dann Objekte der „Guten Form“ eine solche Familie bilden?
Ja, da haben wir einige Schätze. Die „Gute Form“ hatte das Ziel, die Industriekultur der Schweiz voranzutreiben. Hier war Max Bill prägend. Er hatte im Auftrag des Schweizerischen Werkbundes SWB die internationale Wanderausstellung „Die gute Form“ 1949 realisiert. Wir sind in der glücklichen Lage, in naher Zukunft das gesamte Max-Bill-Archiv zu erhalten.
Welche Preziosen gibt es noch beispielsweise?
Sehr oft haben wir auch das letzte Exemplar eines Objekts. Zum Beispiel die erste Toblerone-Verpackung überhaupt aus den 1920er Jahren – die liegt bei uns gut geschützt im Panzerschrank.
Hier in der neuen Dauerausstellung trifft man auch auf unerwartete Gegenüberstellungen.
Ja, genau. Wir können hier viel freier agieren als eine Kunstausstellung, die ein Gemälde von Marc Rothko nahezu immer recht starr bei den amerikanischen abstrakten Expressionisten verortet. Wir können wie hier in der Industriedesign-Vitrine einen Skischuh auf eine Espressomaschine treffen lassen. Dies gibt interessante Querbezüge. Beide Objekte haben den Glanzgrad und die Massstäblichkeit gemeinsam, aber auch die Funktionsmechanik: Hier schliesst ein Umkippen der Schnalle den Schuh, dort wird durch ein Umlegen des Bügels die Kapsel befestigt. Solche Prinzipien findet man überall, und das macht die Sammlung für uns so reich. Sie ist wild und frei kombinierbar. Es geht ums Geschichtenerzählen in unserer Branche.

Geschichten erzählt auch der Teil der Dauerausstellung, der von externen Kreativen bespielt wird.
Mit diesen temporären Inszenierungen wollen wir einen neuen Blick auf die Sammlungsbestände geben. Diese Stimmen von ausserhalb des Museums sollen den Fächer aufmachen. So haben wir die bekannte Zürcher Gastronomin Zizi Hattab eingeladen, aus ihrer Sicht Objekte aus der Sammlung zu wählen. Hier möchten wir bewusst den Fächer öffnen und ein gewisses Risiko eingehen. Eine neue Sichtweise bringen auch Jugendliche ein. Wir haben seit einigen Jahren ein Projekt mit einer Zürcher Schule, bei denen 8- bis 14-jährige Designscouts uns aus ihrer Sicht sammlungswürdige Objekte vorschlagen.
Zum Beispiel?
Die grünen Lime Scooter, aber auch FCZ-Fanschals oder die kultigen Icetea-Verpackungen. Bei manchen Vorschlägen stellen sich uns auch mal die Haare. Aber diese Reibungsfläche ist für uns wichtig. So stellen wir auch sicher, dass wir nicht nur in unserem eigenen Saft köcheln.
Partizipation ist ein wichtiger Teil des Ausstellungskonzepts.
Teil der Dauerausstellung ist auch das sogenannte Studio. Hier ist das Publikum gefragt. Es kann in diesem Workshopbereich selbst gestalten, Design ausprobieren, Wissen vertiefen, sich austauschen oder einfach entspannen. Wir starten zum Jubiläumsjahr mit Papier – Besucher können Stühle falten, auch Paper Fashion ist ein grosses Thema. Mich begeistert das, wie hier täglich in grosser Konzentration und mit viel Spass neue Arbeiten entstehen, die wir dann auch hier ausstellen. Eine echte Bereicherung!

Was verändert die Aufgaben eines Museums heute sonst noch?
Die Digitalisierung, ganz klar. Auch hier versuchen wir immer, neue Wege zu beschreiten. Teil der Ausstellung ist eine interaktive Installation, in der die KI Bildkombinationen aus unsrem Archiv berechnet und zusammenstellt. So kann man zum Beispiel ein Plakat auswählen und die KI nach Arbeiten suchen lassen, die eine ähnliche Farbverteilung, einen ähnlichen Schwarzweiss-Raum oder einen ähnlichen Kontrast aufweisen. Eine Miniausstellung also, die dank KI völlig andere Resultate aufweist als eine vom Menschen kuratierte.
Eine Spielerei?
Noch ist es eine Spielerei. Unser Interesse daran ist aber, dass wir KI so nutzen möchten, dass sie uns unterstützt beim Inventarisieren. Das ist schliesslich eine riesige Arbeit, wir müssen pro Jahr rund 5000 Objekte erfassen.

Das E-Museum bietet auch solche Überraschungen?
Wir haben schon 2002 damit begonnen, unser E-Museum aufzubauen. Aber für uns war früh klar, dass dies nicht nur eine Suchmaschine sein sollte. Wir hatten zusätzlich eine Findmaschine vor Augen. Deshalb gibt es dort, in dieser digitalen Repräsentanz unserer Sammlung, die Funktion des Stöberns. Und stöbern kann man mittlerweile unter 126.000 Objekten. Das ist ein alternativer Weg des Suchens, vergleichbar mit einem Spaziergang über einen Flohmarkt. Man lässt sich überraschen.
Eine Überraschung nicht-digitaler Art wartet seit kurzem auf die Besuchenden im Untergeschoss des Museums. Bisher konnte man Schaudepot nur auf Anfrage besuchen. Nun ist ein Teil des Sammlungsdepots zugänglich.
Hier im Archiv läuft man quasi durch die Designgeschichte. Ein Skywalk, ein transparenter Brückenbau, führt durch das Schaudepot, das Licht inszeniert jeweils dort die Objekte, wo man gerade steht. Hier konnte ich mich austoben. Man findet hier den Ur-Hocker von Max Bill, der die Kratzspuren seiner Katze zeigt. Man kann Archetypen des Sitzens bestaunen. Der „Grand Confort“-Sessel von Charlotte Perriand und Le Corbusier trifft auf den „Sans Confort“ von Stefan Zwicky aus Beton, eine brutalistische Persiflage des legendären Vorbilds. Und man kann sehen, wie beispielsweise organische Formen sowohl Verner Pantons Freischwingern wie auch den Strandstuhl von Willy Guhl prägen. Zudem lassen sich Schätze entdecken wie die Haute-Couture-Kleider des weltberühmten Modeschöpfers Cristóbal Balenciaga oder die zauberhaften Marionetten von Sophie Taeuber-Arp.
Und der illuminierte Skywalk durchs Archiv ist auch ein echter Blickfang.
Ja, das wird von den Besucher*innen auch reichlich genutzt zum Fotografieren. Ein Museum muss heute instagrammable sein, da führt kein Weg dran vorbei.

Über die Autorin
Andrea Eschbach ist 1964 in Mannheim geboren. Die Kunsthistorikerin startete ihre Karriere zur Designjournalistin als Redakteurin des Designmagazins Form. Seit 2001 lebt sie in Zürich. Sie publiziert zu den Themen Wohnen und Raum, Design und Architektur in Schweizer und internationalen Publikumszeitschriften, Fachmagazinen und Buchverlagen.
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