Während der nächsten zwei Jahre feiert Die Neue Sammlung – The Design Museum in München das 100-jährige Jubiläum ihrer Eröffnung. Aus diesem Anlass haben wir mit der Direktorin, Prof. Dr. Angelika Nollert, darüber gesprochen, wie sich das Konzept der Zeitgenossenschaft bewährt hat, welche Objekte gesammelt werden und was man heute von einem Designmuseum erwartet.
Interview von Thomas Wagner
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Mit über 120.000 Objekten zählt die Neue Sammlung zu den größten und bedeutendsten Designmuseen der Welt. Wie ist sie entstanden?
Dr. Angelika Nollert: Die Pinakothek der Moderne beherbergt ja vier Museen unter einem Dach – das ist großartig. Ich selbst komme aus der freien Kunst und mich interessieren die Verbindungen mehr als die Differenzen. Anders als bei den Kunstgewerbemuseen, die es seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab, wurde die Neue Sammlung aus der Idee der Zeitgenossenschaft heraus gegründet. Die erste Ausstellung 1926 hieß „Die neue Sammlung“. Dieser Begriff wurde dann zum Namen des Hauses. Darin drückte sich ein neues Denken aus, das aus der Reformbewegung entstanden war. Man wollte zwar auch Vorbildersammlung sein, vor allem aber die Zeitgenoss*innen ansprechen. Der Begriff des Neuen war damals weit verbreitet – das neue Bauen, der neue Film, die neue Frau, der neue Mensch – und hat als Äquivalent zur Moderne auch die Neue Sammlung geprägt.
Welche Rolle spielte der Werkbund bei der Gründung?
Natürlich war der Geist des Deutschen Werkbundes präsent. Der Münchner Bund hatte angefangen, Objekte für ein zu gründendes Museum zusammenzutragen – und Richard Riemerschmid hatte gefordert, man müsse über den Tellerrand hinausschauen und international sammeln.
Digitalisierung, Social Design, KI: Wie sammelt man aus der Tradition des Hauses heraus in einer unübersichtlich gewordenen Gegenwart?
Nach dem Gießkannenprinzip alle Sammlungsfelder abdecken – das können wir nicht. Sowohl beim Ausstellen als auch beim Sammeln versuchen wir, aktuelle Themen aufzugreifen und zeitgenössisch zu präsentieren. Bauhaus-Design kann man nicht wie in 1928 ausstellen, man muss eine zeitgemäße Form der Präsentation finden. Die Paternoster Halle zum Beispiel war lange Zeit dem Sammlungsbereich zugeordnet. Dann haben wir sie Persönlichkeiten des Designs gegeben – aktuell Paula Scher, deren Karriere in den 1970er-Jahren begann und bis heute anhält.
Zumal sie in Deutschland noch nie auf diese Weise präsentiert wurde.
Wir versuchen immer Positionen zu finden, die man nicht überall sieht. Ich halte wenig von Wanderausstellungen. Wir haben eigene Kurator*innen, wir haben tolle Sammlungen, wir haben tolle eigene Ideen. Wenn wir einen Raum verändern, arbeiten wir mit Designer*innen zusammen, möglichst anhand einer In situ-Installation – was im Design eher selten ist.
Installationen als Inseln in der historischen Abfolge?
Wir wollen durchaus weg von Chronologie und Hierarchie. Natürlich zeigen wir nach wie vor Ikonen, aber eben auch anonyme Werksentwürfe. Wir zeigen sozusagen Hochwertigkeit und Gebrauch nebeneinander – zum Beispiel, was Textilien von Anni Albers oder Gunta Stölzl angeht. Ein Stoffentwurf für einen unendlichen Rapport ist ja nicht per se schlechter als das Unikat eines Wandbehangs.
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Zusammenführen statt Trennen als Museumskonzept?
Wir zeigen Gestaltung, wollen aber auch selbst gestalten. Gestaltung diskutieren, Plattformen für Ansätze schaffen und eine Haltung finden.
Das heißt, Gestaltung steht im Zentrum, weniger Design?
Der Begriff der Gestaltung schließt Design ja ein. Tatsächlich gab es von Anfang an eine Mischung aus Unikaten und Serienprodukten. Zum Beispiel haben wir eine große Thonet-Sammlung. Wir besitzen aber auch Orchideen wie eine Fotografie-Sammlung. Immerhin gab es 1967 in der Neuen Sammlung die weltweit erste Ausstellung mit Bernd und Hilla Becher. Bis heute kaufen wir immer noch sehr viel Keramik, Glas und Schmuck.
„Wir zeigen Gestaltung, wollen aber auch selbst gestalten. Gestaltung diskutieren, Plattformen für Ansätze schaffen und eine Haltung finden.“
– Prof. Dr. Angelika Nollert, Die Neue Sammlung – The Design Museum
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Was würden Sie nicht sammeln?
Mode etwa haben wir nie gesammelt, weil das Münchner Stadtmuseum ein phantastisches Modemuseum mit einer historischen Sammlung beherbergt. Andere Sammlungsgebiete stoßen an ihre Grenzen. Wir haben zum Beispiel früher Automobile gesammelt und zeigen auch heute noch, wie sich das Automobildesign entwickelt hat. Aber es hat heute keinen Sinn mehr, Autos zu sammeln. Stattdessen entwickeln wir einen Raum für Mobilitätskonzepte. Auch Software können wir aus diversen Gründen nicht sammeln, obwohl das ein wichtiger Bereich ist. Auch die wenig gut gestalteten, magentafarbenen Telefonzellen der Telekom hätte ich nicht gesammelt. Ansonsten sind wir relativ offen, solange die Objekte Sinn machen.
Wie geht man im Museum damit um, dass die Objekthaftigkeit von Design immer mehr in den Hintergrund rückt?
Im klassischen Museum findet man Objekte, die man nicht anfassen darf. Es wäre auch nicht gut, wenn alle den Eileen Gray Sessel, den es nur zweimal auf der Welt gibt, anfassen dürften. Eine unserer Antworten auf dieses Dilemma heißt „Sound of Design“. Die mit Designobjekten verbundenen Geräusche sind nicht weniger spannend als ihre sichtbare Form. Wir besitzen ein unglaubliches synästhetisches Gedächtnis, erkennen sofort, wie ein Dieselmotor klingt, welches Geräusch ein Föhn oder ein Elektrorasierer macht. Wie hört sich eine Autotür an, die ins Schloss fällt? Wie klickt der Blinker? Solche Geräusche sind auf unserer Internetseite und im Museum über einen QR-Code abrufbar.
Wo bewegt sich im Design derzeit am meisten?
Wenn ich mit Unternehmen und deren Designer*innen spreche, fällt weltweit sofort das inflationär gebrauchte Wort ,Nachhaltigkeit’. Das können wir im Museum genauso wenig ignorieren wie die Unternehmen. Designer wie Stefan Diez bestätigen das, wenn sie feststellen, dass sie keinen Entwurf mehr anbieten können, der nicht nachhaltig gedacht ist. Die Unternehmen stehen unter Druck und sehen sich mit Forderungen wie sortenreiner Trennbarkeit von Materialien und ähnlichem konfrontiert. Als Museum wollen wir solche Diskurse abbilden, und wenn möglich, gelungene Beispiele zeigen. Hella Jongerius mit ihrer radikalen Sichtweise ist ein Beispiel dafür, wie man das exemplarisch darstellen kann.
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Gibt es besondere Erwartungen an ein Designmuseum?
Der Klassiker in allen Museen der Welt ist: Die Besucher*innen wünschen sich mehr Aufenthaltsqualität. Es gibt immer zu wenig Sitzgelegenheiten, und wegen Brandschutz, Fluchtwegen etc. kann man sie nicht einfach integrieren. Also haben wir bei der Entwicklung unseres ,X-D-E-P-O-T’ 200 Quadratmeter frei gelassen – für Workshops, Symposien, Vorträge, usw. – und dort Sitzmöbel aufgestellt, zum Ausprobieren für Kinder und Erwachsene. Da kommen dann Kindergärten, zu denen wir sagen: ,Setzt euch mal auf alle Stühle. Welchen findet ihr am bequemsten?’ In der Rotunde haben wir zudem ein ,Social-Seating-Projekt’ realisiert: Sitzmöbel, die zur Kommunikation anregen. Das ist der absolute Renner. Außerdem macht es Spaß. Manche arbeiten hier mit dem Laptop, andere unterhalten sich stundenlang, wieder andere probieren alles aus wie auf einem Abenteuerspielplatz. Ich glaube, von einem Designmuseum wird schlicht erwartet, dass man die Dinge dort ausprobieren und aktuelle Fragestellungen miterleben kann. Diese Erwartung versuchen wir zu erfüllen.
Welche Rolle spielt Design in der heutigen Gesellschaft? Ist es vermessen zu glauben, dass alles gestaltbar ist?
KI wird sicherlich ein bestimmendes Thema sein. Die Frage ist: Wie gestalte ich KI? Werde ich womöglich irgendwann nicht mehr dazu in der Lage sein, weil sie sich ständig selbst optimiert? Oder erstarrt so ein Programm, da es sein Wissen ja repetitiv generiert und dadurch immer einseitiger wird? Das sind weitreichende gesellschaftliche Fragestellungen. Welche Ethik steht dahinter? Wo müssen wir Stopp rufen? Auch das Teilen wird wichtiger werden, fragen sich doch immer mehr Menschen: Was bedeuten mir Objekte? All das wird Einfluss auf unser Museum nehmen, und die Art und Weise verändern, wie Dinge dort präsentiert werden. Wer in Präsentation und Kommunikation auf Zeitgenossenschaft setzt, muss mit der Zeit gehen, selbstkritisch bleiben, seine Perspektiven hinterfragen und sie immer wieder verändern. Auch deshalb nehmen wir Partizipation und Inklusion ernst.
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Austellungen anlässlich des Jubiläums:
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100 Jahre, 100 Objekte
Zum 100jährigen Bestehen der neuen Sammlung
Pinakothek der Moderne
München
Ab 21. Mai 2025 (dauerhaft)
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Vier Museen – 1Moderne
Gemeinschaftsausstellung aller vier Museen
Pinakothek der Moderne
München
3. Apr. – 28. Sept. 2025
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Über den Autor
Thomas Wagner, geb.1955, hat in Heidelberg und Brighton (Sussex) Germanistik und Philosophie studiert. Bereits während des Studiums arbeitet er als Kunstkritiker und freier Journalist. Ab 1986 schreibt er für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1991 bis 2007 als leitender Redakteur für Bildende Kunst und Design zuständig ist. Anschließend freier Autor, Kunstkritiker und Kolumnist. Für Stylepark baut er ein Online-Magazin auf. Er war Redakteur des Magazins designreport des Rat für Formgebung und ist derzeit Online-Redakteur bei ndion. Thomas Wagner hat als Vertretungs-, Gast- und Honorarprofessor gelehrt und war Gründungsmitglied der DGTF. Er war und ist Mitglied zahlreicher Jurys.