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Design jenseits uniformer Massenproduktion: Er experimentierte mit Kunststoff und Filz, liebte leuchtende Farben, gab den Spaßvogel und Anarchisten und verlor nie etwas von der Radikalität kindlicher Fantasie. Nun ist Gaetano Pesce im Alter von 84 Jahren gestorben.

Von Thomas Wagner

Gaetano Pesce

Das Gewöhnliche war ihm nie genug. Er wollte weder sich noch andere langweilen. Gaetano Pesce, 1939 in der italienischen Hafenstadt La Spezia geboren, liebte den Rollenwechsel und spielte mit Lust das Enfant terrible. Kunst, Architektur, Design – das waren für ihn keine strikt getrennten Disziplinen, sondern willkommene Spielwiesen für seinen wachen Geist, der gerne provozierte, politisch dachte und anarchistisch handelte. So hat er das Design als Teil einer vielfältigen, bunten und liebenswerten Welt lebendig werden lassen. Das ist nicht wenig in einer Zeit, in der so vieles in Frage gestellt scheint, nicht zuletzt eine positiv besetzte Objektkultur.

Die schaumgeborene Göttin

Von 1958 bis 1963 studierte Gaetano Pesce in Venedig Architektur und besuchte das Institut für Industriedesign. An dieser experimentellen Schule lernte er  Milena Vettore kennen, mit der er ein Studio in Padua eröffnete und 1959 die Gruppe „N“ gründete, die sich mit „programmierter Kunst“ beschäftigte. Später schloss er sich der Radical-Design-Bewegung an, die das Konsumdesign ebenso ablehnte wie den Durchschnittsgeschmack und versuchte, den im Industriedesign vorherrschenden Funktionalismus zu überwinden.

Auf einen Schlag wurde Pesce 1969 mit dem Sessel „Up“ als Designer bekannt, der sich, kaum war er der Vakuumverpackung gelöst, wie eine schaumgeborene Göttin zu opulenter Gestalt entfaltete. Es war die Zeit von Pop und Love and Peace und vielfältigen Befreiungshoffnungen, und so wurde der Sessel „Up 50“, der auf große, prähistorische Fruchtbarkeitsidole anspielende, sogleich „La Mamma“ genannt. Bis heute ist umstritten, ob die sinnlichen Rundungen des Sessels Kritik an der Unterdrückung der Frau ausdrücken und ob die als Fußhocker nutzbare Kugel als Kind oder als Symbol der Gefangenschaft zu verstehen ist. Unkonventionell war das Ganze auf alle Fälle, und nicht zuletzt durch die von C&B Italia (Cassina & Busnelli) entwickelte Technologie des Schäumens großformatiger Teile, ein Bruch mit den traditionellen Herstellungsmethoden von Polstermöbeln. 

Sessel Up, B&B Italia, 1960
UP 1, © Vitra Design Museum | Foto: Roland Engerisser

Das Golgatha des Massendesigns

Als Cassina 1971 mit „BracciodiFerro“ einen Ableger für Experimentaldesign gründete, übernahm Pesce die Leitung. Mit „Moloch“ entstand eine ironisch ins Gigantische vergrößerte und zur Industrieskulptur erhobene Tischleuchtee. Unter dem Motto „Design as commentary“ beteiligte sich  Pesce 1972 auch mit einem Wohnmodul an der berühmten Ausstellung „Italy: The New Domestic Landscape” im New Yorker MoMA teil.  Erste Versuche mit Kunstharz führten zum „Golgotha Chair“. Einmal mehr erwies sich Pesce als Meister der Anspielung und des Kommentars, der im kollektiven Gedächtnis verankerte Symbole jenseits gängiger Normen wirksam werden lassen wollte.

Welcher andere Designer als er hätte es gewagt, das Leiden des christlichen Erlösers zu thematisieren?  Die Golgotha-Serie widmet sich biblischen Motiven aus der Passion Christi, wobei der Golgatha-Stuhl auf das Grabtuch Christi Bezug nimmt. Der Stuhl in der Farbigkeit eines Leinentuchs besteht aus Glasfasergewebe, Polyesterfasern und Epoxidharz. Um die Sitzfläche zu formen, wurde das getränkte Tuch zum Aushärten auf einen Würfel gelegt und die Rückenlehne an zwei Haken aufgehängt. Der Körperabdruck einer Person gab dem Ganzen eine individuelle Form – vergleichbar mit dem Abdruck des Körpers Christi auf dem Turiner Grabtuch. Bei dem Tisch der Serie scheint das rot eingefärbte Harz, das an das Blut Christi erinnert,  von der Platte nach oben zu tropfen, als sei die Schwerkraft der Verhältnisse aufgehoben. 

Eine Fototapete als Sofa

Wie frech und verspielt Pesce vorging – der 1980 nach New York gezogen war und sich in SoHo Studios am Broadway und an der Houston Street eingerichtet hatte – demonstriert auch sein Element-Sofa „Tramonto a New York“, das einen Sonnuntergang über der Skyline von Manhattan darstellt. Auch bei „Montanara“, das schneebedeckte Gipfel mit reißenden Wasserfällen kombiniert, hat der Ironiker die Fototapete kurzerhand zum Möbel gemacht. Als einer der Ersten experimentierte Pesce mit Filz. Daraus entstand einer seiner erfolgreichsten Entwürfe: der Sessel aus der Serie „I Feltri“. Bescheiden wie ein König, entwarf Pesce als Regent im Land des Designs lieber Throne als einfache Gebrauchsgegenstände. 

Tramonto a New York sofa by Gaetano Pesce | © Cassina | Foto: Luca Merli

Eine Caffetiera, die den Funktionalismus aufs Korn nimmt

Mit wie viel Witz und Ironie funktionalistisches Design auf die Spitze getrieben und in heitere Selbstkritik verwandelt werden kann, hat Pesce mit seiner Mokkakanne „Vesuvio“ in unübertroffener Deutlichkeit gezeigt. . Da beim Erhitzen auf der Kochplatte das Wasser im unteren Teil der Kanne verdampft und der entstehende Überdruck das kochende Wasser durch einen Trichtereinsatz mit Kaffeepulver drückt, woraufhin der Caffè in die obere Kammer sprudelt, gleicht eine Caffettiera einem ausbrechenden Vulkan. Ganz nach der Formel “form follows function”at Pesce seinen „Vesuvio“ als Bergmassiv gestaltet, dessen Gipfel weggesprengt wurde und einen Krater aus glühender Lava bildet, über dem eine Dampf- und Aschefahne schwebt. 

Lustiges Fish Design

Pesces Erfindungsreichtum kannte kaum Grenzen. 1994 gründete er die Firma „Fish Design“ mit Sitz in Mailand und New York. Produziert wurden Vasen, Schalen, Spiegel, Wanduhren, Teller, aber auch Gürtel, Ketten und Ringe in allen möglichen Kunstharzformen. Bei aller Lust zu provozieren sind Pesces Objekte nie allein fürs Auge geschaffen; ihr anarchistischer Geist erschließt sich erst ganz im Taktilen.

Wer die aus durchgefärbtem Kunstharz gefertigten Blumenvasen von „Fish Design“ unter die Lupe nimmt, der wird feststellen, dass der Designer die Gefäße gleichsam hat explodieren lassen oder, wie man heute sagen würde, sie dekonstruiert hat. Nicht zu vergessen seine knallbunten Ringe, die wie aus dünnen Spaghetti-Fäden zusammengeknotet scheinen, zweifarbige Teller und viele witzige Accessoires mehr. Heiter gestimmt hat Pesce, der bis zuletzt auf Instagram aktiv war, auch noch in hohem Alter unermüdlich weitergestaltet. 2022 entwarf er 400 Stühle aus Kunstharz für „Bottega Veneta“, die damals angesagteste Modemarke der Welt. In den sozialen Medien ging das Projekt viral. Jedes Exemplar der farbenfrohen Kollektion „Come stai?“ war ein Unikat – und konnte online gekauft werden.

‚Come stai?‘, ©Matteo Canestraro | Courtesy Bottega Veneta

Die unvermeidbare Janusköpfigkeit des Gestaltens

Pesce hat Design als Konsumgut und Massenphänomen nie abstrakt kritisiert. Vielmehr visualisierte er in seinen Objekten die Haltung, die er ihnen und ihrem Entstehungskontext gegenüber einnimmt – mit all den Mythen, die sich um den Fetisch Ware ranken. Damit und mit seinem unerschrockenen Experimentieren mit Materialien und Methoden erweiterte er das Spektrum des Designs und emanzipierte es von seiner Rolle als Knecht der industriellen Produktion.  Wobei seine bewusst provisorisch wirkenden Möbel und Objekte immer wieder die unvermeidliche Janusköpfigkeit allen Gestaltens offenbaren. Das ist, alle jungen Designer*innen sollten es sich merken, kein Grund, melancholisch zu werden. „Ich denke“, sagte Pesce einmal in einem Interview, „es ist wichtig, dass wir als Designer die Menschen zum Lachen bringen. Auch wenn das Leben manchmal schwierig ist, sollten wir das nicht aus den Augen verlieren.“ Gaetano Pesce ist m 4. April ist Gaetano Pesce in New York gestorben.

Directed and Produced by Chiara Clemente for MAD Ball 2023.  

Ausstellung in Mailand

Anlässlich des kommenden Salone del Mobile wird vom 15. bis zum 23. April in der Bibliotheca Ambrosiana die Ausstellung „Nice to See You“ von Gaetano Pesce zu sehen sein – mit 30 seiner letzten, zwischen 2023 und 2024 entstandenen Werke. „In der Sala delle Accademie der Ambrosiana-Bibliothek zeigen wir, dass Design nicht tot ist“, hat Gaetano Pesce über die Ausstellung gesagt. 


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