Im zweiten Teil unseres Specials über zirkuläre Materialien widmen wir uns starren und flexiblen Stoffen. Entwickelt aus Komponenten wie Sägemehl, Pilzstrukturen, Bauschutt oder ausrangiertem Plastik, beginnen sie unser ästhetisches Verständnis zu verändern.
von Markus Hieke
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Die ,Translucent Collection‘ von Polygood | © The Good Plastic Company, 2025
Je tiefer man in die Materie der kreislauffähigen Materialinnovationen eintaucht, desto größer wird ihre Anziehungskraft. Denn sie denken Stoffströme, wie wir sie kennen, oft grundlegend neu. Sie erzählen von einem früheren Leben oder entführen uns in eine Welt unterschätzter Organismen. Sie grundlegend zu erforschen, ist mehr als eine rein gestalterische Aufgabe. Ihre Widerstandsfähigkeit gegen alltägliche Einflüsse, ihre Druck- und Zugfestigkeit, ihre Elastizität, ihre Farbechtheit, ihre Reproduzierbarkeit und vor allem ihr End-of-Life-Konzept, ihre Recyclingfähigkeit oder Kompostierbarkeit müssen getestet werden. Erst dann lässt sich fragen, ob ihr Aussehen, ihre Haptik, ihre Einzigartigkeit Abnehmer*innen finden.
Wer downcycelt, schafft keinen Kreislauf
Dass das Kunststoffrecycling längst etablierte Praxis ist, liegt allein schon daran, dass es relativ einfach und energieeffizient ist, gut sortierte Polymere in einen zweiten, dritten, vielleicht unendlichen Nutzungszyklus zu überführen. Dennoch wird diese wertvolle Ressource bei weitem nicht immer wiederverwendet.
Dem wollen designorientierte Initiativen wie The Good Plastic Company entgegenwirken: Unter der Marke Polygood vertreibt das niederländische Unternehmen Plattenmaterialien, die zu 100 Prozent aus gebrauchtem Kunststoff hergestellt werden und als bisher einzige ihrer Art eine Cradle-to-Cradle-Zertifizierung erhalten haben. Darüber hinaus verfügt Polygood über eine EPD-Umweltproduktdeklaration, die auf einer präzisen Lebenszyklusanalyse beruht. Die Paneele gibt es in vielen Varianten: mit farbigen Einschlüssen, die an Konfetti, Marmor oder Terrazzo erinnern, in dunklen, hellen und transluzenten Kollektionen. Ausgediente Platten können die Kund*innen über ein Take-Back-Programm kostenfrei zurückgeben.
Distinktion durch Design
In bislang kleinerem Maßstab bietet auch Sustaign aus den Niederlanden Plattenmaterialien aus gebrauchten Kunststoffen für Interior-Anwendungen an. „Wir haben uns zuletzt intensiv darauf konzentriert, das Material für bestimmte Projekte zu individualisieren“, berichtet die Gründerin Lisanne Kamphuis. Gestalterisch verleiht sie dem Werkstoff eine edle marmorierte Optik, die mit verschiedenen, auch natürlichen Materialien harmoniert.
Auch das österreichische Unternehmen Fantoplast hat sich der Umwandlung von Kunststoffabfällen in hochwertiges Plattenmaterial verschrieben. Seit mehreren Jahren engagiert sich Geschäftsführer Raphael Volkmer im Verein Precious Plastic Vienna, der Teil eines internationalen Netzwerks ist, das seinen Ursprung im niederländischen Eindhoven hat. Nachdem die Nachfrage nach gebrauchsfertigen Materialien aus Alltags- und Industrieabfällen stieg, startete er 2024 gemeinsam mit vier Mitgründer*innen die Serienproduktion von kreislauffähigen PETG-Paneelen. Um die Transportwege möglichst kurz zu halten, bezieht das Wiener Start-up seine Ressourcen von regionalen Recyclingunternehmen.
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Von Schutt zu Schönheit
Dass die Baubranche massiv zum Ausstoß klimaschädlicher Treibhausgase beiträgt, ist bekannt. Doch wie kann man weiter bauen und gleichzeitig die Auswirkungen auf Umwelt und Klima zumindest begrenzen? Von dieser Frage angetrieben, produziert Front aus Amsterdam unter anderem Ziegel und Riemchen, die zu einem großen Teil aus Bauschutt bestehen. Fast dreieinhalbtausend Tonnen Abfall konnten bisher mit den „WasteBasedBricks“ und „WasteBasedSlips“ von Front aufbereitet und so optisch ansprechend in Architektur- und Interiorprojekte integriert werden. Zum Portfolio von Front gehören auch Fassadenschindeln aus recyceltem PVC, Wandpaneele aus Abfällen der Maisproduktion sowie Paneele aus kurzen Zellulosefasern, wie sie in Papierfabriken in großen Mengen anfallen.
Der Designer Tom van Soest, der die „WasteBasedBricks” einst aus seiner Abschlussarbeit an der Design Academy Eindhoven entwickelte und ab 2012 unter der Marke StoneCycling vermarktete, geht inzwischen neue Wege: Mit Blended Materials konzentriert er sich auf die Herstellung von Fliesen, für die ausschließlich zermahlene Bauabfälle und überhaupt keine neuen Rohstoffe gebraucht werden.
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Organischen Ressourcen gehört die Zukunft
Nochmals vielfältiger zeigt sich das Spektrum im Bereich organischer Ressourcen. Designerin Christien Meindertsma etwa befasst sich seit Jahren mit Leinenfasern und -ölen. Nun hat sie mit technischer Unterstützung des Bodenbelagsherstellers Forbo die traditionelle Linoleumherstellung aufgebrochen und bietet in Kollaboration mit der britischen Marke Dzek ein vielseitiges Plattenmaterial namens „Flaxwood“ an – mit einer Textur, die selbstbewusst den natürlichen Ursprung hervorhebt, statt ihn (wie es bei Linoleum oft der Fall ist) zu kaschieren.
Mit „Sprwood“ wiederum hat Sofia Souidi, die 2018 den „Best of Best“-Titel bei one&twenty gewann, ein Material entwickelt, für das sie recycelte Holzfasern mit einem biobasierten Bindemittel kombiniert. Das eingesetzte Kasein gewinnt sie aus Milchüberproduktion. Die Designerin aus Berlin hebt hervor, dass 95 Prozent aller Faserplatten mit Formaldehyd-Leimen hergestellt werden, die für Mensch und Umwelt nachweislich schädlich sind. Zudem verhindern sie, anders als ihre mit Unterstützung des Fraunhofer Institut für Holzforschung WKI gefundene Rezeptur, dass die Materialien am Ende ihres Lebenszyklus wiederverwertet oder zumindest kompostiert werden können.
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Zutaten für ‚Flaxwood‘: Leinöl, das aus den reifen Samen von Flachs gewonnen wird, und Holzmehl | Fotos: Mathijs Labadie
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Wie Leder, nur ohne Tierhaut
Ein spannendes Feld ist auch die Entwicklung veganer und biobasierter Lederalternativen, für die nicht auf Kunststoffe zurückgegriffen wird. Dazu zählt das hessische Unternehmen Nuvi, das seine täuschend echt wirkenden Materialien für Möbel- und Modeanwendungen überwiegend aus pflanzlichen Bestandteilen produziert. Ihr realistisches Finish verleiht ihnen ein Zuschlag aus Kreide- oder Marmorstaub. MycoWorks aus den USA ist es gelungen, eine Lederalternative aus mikroskopisch feinen Pilzstrukturen zu kreieren. In den Neunzigern schon experimentierte Co-Gründer Philip Ross mit Myzelien für Design- und Kunstanwendungen. 2020, nach etlichen Jahren der Forschung, präsentierte das Unternehmen das lederartige Material „Reishi“, das im Labor zu dreidimensionalen Strukturen von variabler Dicke, Elastizität und Textur kultiviert wird. Zunächst mit Blick auf die Mode- und Luxusindustrie gelauncht, prüft mit Ligne Roset inzwischen auch ein Designunternehmen den Einsatz.
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Das Kopenhagener Natural Material Studio um die Designerin Bonnie Hvillum setzt dagegen weniger auf Imitation als auf experimentelle Materialstudien. Ein großer Unterschied: Hier ist nichts auf Masse ausgelegt. Bei den 3daysofdesign 2024 präsentierte das interdisziplinäre Team in Zusammenarbeit mit dem Architektur- und Designbüro Office Kim Lenschow Platten aus Sägemehl und transluzente Folien. Im Showroom der dänischen Marke Dinesen war dies eher als künstlerische Intervention zu verstehen. „Wenn wir erreichen wollen, dass Holz Teil einer nachhaltigeren Lösung ist, müssen wir darauf achten, den gesamten Baumstamm zu verwenden, von den Brettern und Abschnitten bis hin zu Spänen, Sägemehl und Staub“, so Hvillum und Lenschow. Um sicherzustellen, dass sich das Material später ohne den Einsatz von Chemikalien auflösen kann, wurden ausschließlich die im Holz enthaltenen Bindemittel aktiviert. Für ihre Materialkreationen „Bio-textile“ und „Bio-foam“, die sie in der Installation „White Utopia“ im früheren Industriehafen Refshaleøen präsentierte, setzt Bonnie Hvillum auf eine Mixtur aus proteinbasierten Polymeren, natürlichen Weichmachern und Kreide. Die in Form gegossenen, gummiartigen Materialien sind dabei nicht nur biologisch abbaubar, sondern können auch eingeschmolzen und erneut gegossen werden.
Die Liste an kreislauffähigen Lösungen ließe sich fortführen. Was alle Initiativen eint, ist nicht nur ihre Motivation, Emissionen und schädliche Umweltauswirkungen zu minimieren. Sie beeinflussen unsere ästhetische Realität. Das imperfekte Unikat könnte so in Zukunft die Welt um uns herum bestimmen – schön vergänglich, vergänglich schön.
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Außerdem auf ndion:
Innovative Ansätze für eine zirkuläre Textilzukunft
Mikroplastik ade: Im ersten Teil unseres Specials zu kreislauffähigen Materialien stellen wir vorrangig biobasierte Fasern, Garne und Gewebe für Mode und Interior vor, die als vielversprechende Alternativen zu Biobaumwolle und Leinen gehandelt werden.
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Über den Autor
Markus Hieke ist freier Journalist und Autor mit Schwerpunkt auf Interior-/ Produktdesign und Architektur. Mit einem Hintergrund im Kommunikationsdesign, fand er 2013 zum Schreiben und erlangt seither eine feste Stimme in namhaften deutschen und internationalen Fach- und Publikumsmedien. Gestaltung für ein breites Publikum greifbar zu machen, versteht er für sich als Auftrag und nähert sich diesem anhand von Porträts, Interviews und Hintergrundreportagen zu Protagonist*innen und Themen von Handwerk bis Zirkularität, auch abseits des Rampenlichts.
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