Im täglichen Trubel nehmen wir sie kaum wahr, obwohl sie überall um uns herum sind. Vielleicht liegt es an ihrer Allgegenwärtigkeit und daran, dass wir einfach nicht mehr ohne sie können. Diese unscheinbaren Helden des Alltags halten unsere Welt buchstäblich zusammen. Sie sind die heimlichen Stars in unseren vier Wänden und in all den anderen Dingen, die wir täglich benutzen. Ihre Vielseitigkeit ist bemerkenswert. Sie halten und stabilisieren einfach alles, von den erhebendsten Bauwerken bis hin zu den kleinsten Gegenständen des täglichen Gebrauchs.
Von Kai Linke
Die Rede ist von Verbindungen – dem Prinzip, zwei oder mehr Teile miteinander zu koppeln, gleich welcher Form oder aus welchem Material. In der Gestaltung, der Architektur und im Design stellt sich täglich die Frage, wie Einzelnes miteinander verbunden werden kann. Verbindungen sind die Antwort. Es handelt sich dabei aber nicht nur um funktionale Elemente. Vielmehr vereinigen sie mannigfaltige ästhetische und kulturelle Aspekte. Sie beeinflussen die Wahrnehmung von Architektur und Design und der Welt an sich.
U-Joints – A Taxonomy of Connections ist ein verlagsunabhängig entstandenes Buch, das sich dem Thema Verbindungen auf einzigartige Weise widmet. Das von dem Architekten Andrea Caputo und der Designprofessorin Anniina Koivu herausgegebene Werk ist ein kollektives Projekt mit Beiträgen einer vielfältigen, interdisziplinären Gruppe von 120 Autoren, Forschern, Designern, Architekten, Künstlern, Fotografen und Illustratoren. Das titelgebende „U-Joints“ steht im Englischen für „Universal Joints“, zu Deutsch „Universal-Verbindungen“.
Eine Notwendigkeit mit unzähligen Facetten
Verbindungen sind keine Modeerscheinung oder ein neuer Trend. Sie sind von jeher da, seitdem der Mensch begonnen hat, Dinge zu erschaffen und sie zusammenzuhalten. Jede Kultur hat ihre eigenen Techniken entwickelt, ihre ganz individuellen Wege. Sie sind ein Zeugnis von menschlichem Einfallsreichtum und dem Talent, Lösungen zu finden. Wenn man einmal bewusst darauf achtet, sieht man sie plötzlich überall, in verschiedenen Ausführungen und Materialien. Mal sind sie dynamisch, mal statisch. Viele sind inspiriert von der Natur, sie lassen sich einmalig benutzen, immer wieder öffnen, wiederverwenden, mit ihnen lässt sich reparieren oder auch neu planen. Sie wirken im Hintergrund und halten unsere Welt am Laufen.
Die Idee des Buchs geht zurück auf ein seit 2018 andauerndes internationales Forschungsprojekt und eine Ausstellungsreihe zum Thema Verbindungen in Design und Architektur: Es begann mit einer kleinen spontanen Ausstellung zur Salone de Mobile in Mailand, 5 Jahre später ist ein umfassendes Werk mit 943 Seiten entstanden. Mit seinem besonderen Blick und dem darin versammelten Fachwissen ist es mehr als ein Ausstellungskatalog oder eine reine Aufzählung von Verbindungsmethoden.
Erquickender Materialreichtum
In seiner Vielfalt und Tiefe überrascht das Buch. Die sechs Buchkapitel präsentieren eine breite Palette von Verbindungslösungen, die in Haupt- und Unterkategorien unterteilt sind: mechanische Verbindungen, Holzverbindungen, Knoten und Maschen, Klebstoffe und Dichtungsmaterialien sowie Schweiß- und Schmelzverbindungen. Zu Beginn eines Kapitels werden in einer Taxonomie grundlegende Prinzipien und Mechanismen erklärt, gefolgt von einem umfassenden Überblick über die Anwendungsmöglichkeiten. Die Bandbreite reicht von häufigsten bis zu seltensten Verbindungen, umfasst Unerwartetes wie auch höchst Fortschrittliches. Mit diesem analytischen Ansatz werden 1.300 Verbindungen beschrieben, identifiziert, definiert und klassifiziert. Beim Lesen freut man sich, endlich die Fachausdrücke von bekannten und unbekannten Verbindungen zu erfahren und sie beim Namen nennen zu können. Haben Sie beispielsweise ein Bild vom Pelikan-Haken, der schwalbenschwanzförmigen Schlitz- und Zapfenverbindung, der Jacquard-Webung, der Pentalob-Schraube, dem 4-D-Printing oder dem Transglutaminase-Kleber vor Augen?
Eine beeindruckende und erquickende Sammlung von Essays, Interviews, Kommentaren, Anekdoten und Fotostudien begleitet jedes Kapitel. Verschiedene Beispiele aus Architekturgeschichte und zeitgenössischen Projekten werden vorgestellt, um das Anwendungspotenzial zu verdeutlichen. Durch Verwebung kultureller, sozialer und künstlerischer Erzählungen gelingt es, die gesellschaftliche Dynamik einzufangen, die mit der Anwendung und Entwicklung von U-Joints verbunden ist. Die Darstellung verbindet Wissenschaftlichkeit mit einer visuell ansprechenden Form. Das unterstreicht den faszinierenden Facettenreichtum des Themas und erweckt ihn beim Lesen zum Leben.
Tradition und Versatilität
Die kulturelle Bedeutung von Verbindungen in verschiedenen Kulturen wird zum Beispiel anhand von Möbeln, Beleuchtung und anderen Designprodukten diskutiert. Es wird gezeigt, wie Verbindungen in verschiedenen kulturellen Traditionen verwendet wurden und heute noch als Inspiration für zeitgenössische Designer dienen.
So erzählt zum Beispiel der japanische Architekt Kengo Kuma, wie Mythologie und Ästhetik von japanischen handwerklichen Verbindungen seine architektonische Sprache und Denkweise beeinflusst haben. Kumas Projekte starten und enden mit 1:1-Modellen. Sie sind ein wichtiger Gegenstand seiner Arbeit, bei der das Studieren und die Entwicklung von Verbindungen einen grundlegenden Bestandteil bildet, befeuert durch ein hohes Maß an Experimentierfreude bezüglich Technik und Material. Historisch betrachtet sieht Kuma in traditionellen japanischen Holzbauten den Inbegriff einer flexiblen Bauweise. Ihre Innenräume lassen sich viel einfacher verändern als bei modernen Beton- oder Metallkonstruktionen. Dank flexibler Verbindungssysteme passen sich die Räume den Funktionen und Lebensweisen der Bewohner an – ein Konzept, das sich laut Kuma gut auf heutige Planungen übertragen lässt.
Damit erweist sich das von Andrea Caputo und Anniina Kaivu herausgegebene Buch U-Joints als umfassender Leitfaden für Architekten und Designer, die sich für Verbindungen interessieren. Die Reise, auf die die Autorinnen und Autoren uns mitnehmen, regt dazu an, genauer auf die „Helden des Alltags“ zu schauen, sie zu entdecken und schätzen zu lernen. Definitiv ein Buch, das Praktiker*innen aus Architektur und Design in ihrer Bibliothek haben sollten, hilft es doch bei anstehenden Projekten, die passende Verbindungslösung zu finden, sie zu verstehen und in eigenen Entwürfen kreativ einzusetzen.
U-Joints
Andreas Caputo und Anniina Koivu
ISBN 979-12-210-0342-0
Publisher SYNC-SYNC Editions
943 Seiten, 21 x 29 cm, ? kg
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