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Alison Mears und Jonsara Ruth teilen eine Leidenschaft: gesunde Materialien. Die Architektin und die Designerin gründeten zusammen das Healthy Materials Lab (HML) an der Parsons School of Design, ein Design-Forschungslabor, das sich „für eine Welt einsetzt, in der die Gesundheit der Menschen im Mittelpunkt aller Designentscheidungen steht“. Gemeinsam mit ihrem Team möchten sie das Bewusstsein für toxische Substanzen in Bauprodukten schärfen und  Anwender*innen Ressourcen anbieten, die besser informierte Entscheidungen ermöglichen. Mit der Veröffentlichung ihres Buches „Material Health: Design Frontiers“, das Fachleute aus den Bereichen Design, Gesundheit, Materialien, Klimawandel, Umweltgerechtigkeit und Innovation zusammenbringt, gehen sie den nächsten Schritt, um das Thema Materialgesundheit im Diskurs zu verorten.

Alison Mears (links) und Jonsara Ruth (rechts), Foto: Nicholas Calcott

Interview von Karianne Fogelberg

Materialgesundheit scheint so offensichtlich und verdient zweifellos Aufmerksamkeit. Wie kommt es, dass erst jetzt ein Buch darüber veröffentlicht wurde? Wurde das Thema vernachlässigt und wenn ja, warum?
Jonsara: Wenn wir an Rachel Carsons Buch „Stummer Frühling“ denken, das Anfang der 1960er Jahre veröffentlicht wurde, dann hat sie genau das Gleiche gemeint. Warum also ist das Thema nicht in unseren Köpfen angekommen? Die Idee der Materialgesundheit ist in den Händen von Toxikolog*innen, Chemiker*innen und anderen Wissenschaftler*innen geblieben. Die verwendete Sprache ist nicht in eine Sprache übersetzt worden, die Designer*innen und Architekt*innen als ihre eigene verstehen können. Worte wie Formaldehyd, Bisphenole oder Phthalate sind schwer zu verstehen. Man hat das Gefühl, dass diese Sprache nichts für einen selbst ist. Sobald wir sie jedoch vermenschlichen, ändert sich das. Im Healthy Materials Lab sehen wir uns als Übersetzer*innen, die helfen zu verstehen, was diese Informationen mit uns zu tun haben.
Alison: Als Architekt*innen und Designer*innen wussten wir bisher nicht, wie wir nach diesen Informationen fragen sollten. Dies gilt vor allem für die USA, wo der chemische Gehalt von Materialien anders als in der EU oder in den nordischen Ländern nicht ohne weiteres verfügbar ist. Man geht davon aus, dass die Dinge sicher sind, und wenn sie nicht sicher wären, würden wir das wissen. Die Informationen werden in den Händen von Wissenschaftler*innen aufbewahrt. Als wir mit dieser Arbeit begannen, war es ein Kampf, die Informationen aus vielen Bereichen in Architektur und Design in einer Form einzubringen, die für die Menschen zugänglich ist und Aufmerksamkeit schafft.

Sollte dieser Aufwand nicht bei den Unternehmen liegen, die die Materialien überhaupt erst herstellen?
Jonsara: Sicherlich, aber in den USA sind sie nicht verpflichtet, diese Informationen weiterzugeben. Der Markt treibt die Entwicklung dieser Produkte voran. Niemand fordert kategorisch von ihnen, dass sie die in ihren Produkten verwendeten Chemikalien kennen müssen oder nachweisen müssen, dass sie nicht schädlich sind. Das ist die Arbeit, die wir zusammen mit anderen Befürworter*innen von Materialtransparenz geleistet haben. Wir fragen oft einfach „Woraus besteht das?“, damit es zur Normalität wird, jedes Mal, wenn wir ein Material auswählen oder etwas kaufen, solche Fragen zu stellen.
Alison: Als Architekt*innen und Designer*innen hat uns der Markt dazu gebracht, ganz andere Erwartungen zu haben. Wir haben uns daran gewöhnt, aus einer Vielzahl von Produkten in einer Vielzahl von Farben, Formen und Eigenschaften wählen zu können. Aber wir haben nie hinterfragt, warum wir uns in einer Welt befinden, die so viel Auswahl bietet. Brauchen wir dieses bestimmte Produkt in hundert verschiedenen Farben? Brauchen wir glänzende oder weiße Dinge? Welche Bedeutung bekommt die Farbe Weiß, wenn wir zu ihrer Herstellung eine Chemikalie verwenden, die für uns schädlich ist – wie im Fall von Titandioxid, das krebserregend ist? In unserer Ausbildung lernen wir nicht, die Materialien und Produkte, die wir verwenden, zu hinterfragen oder auch nur darüber zu sprechen.

Material Health Hemp and Lime
Hanf- und Kalksysteme sind eine Alternative zu herkömmlichen industriellen Dämmstoffen. Hanfkalkprodukt im Ausstellungsraum von PS Architecture/BioMat, © Healthy Materials Lab

Das erinnert mich an Debatten über die Inhaltsstoffe unserer Lebensmittel, nach dem Motto „Du bist, was du isst“.
Jonsara: Diese Analogie zur Nahrung ziehen wir gerne: Du bist auch, wo du wohnst. Und dafür gibt es Beweise. Urin- und Bluttests zeigen, dass dieselben Inhaltsstoffe, die in Teppichen, Farben oder Möbeln enthalten sind, sich auch in unserem Körper befinden.
Alison: Aufgrund der Art und Weise, wie diese Stoffe in der Umwelt abgebaut werden, wandern sie in unseren Körper und werden Teil unserer Biologie, so wie wir auch Nahrung aufnehmen.
Jonsara: Und was passiert, wenn unser Körper diese Stoffe aufnimmt und sie in unserem System verarbeitet? Die Auswirkungen dieser Stoffe auf die menschliche Spezies sind vielfältig. Die Reproduktionsgesundheit nimmt rapide ab, die Spermienzahl bei Männern und die Fruchtbarkeit bei Frauen sinken. Es wird weniger darüber gesprochen als über den Klimawandel, aber die Chemikalien in den Bauprodukten, mit denen wir unsere Lebensräume gestalten, könnten sich als eine ebenso große Bedrohung für die menschliche Spezies erweisen.
Alison: Letztlich hängen alle diese Themen zusammen. Wir stellen nicht nur Dinge her, die für uns potenziell giftig sind, sondern wir geben auch bei der Herstellung und Entsorgung Giftstoffe an unsere Umwelt ab. Zur Umweltverschmutzung gehört der Ausstoß von CO2 oder Methan in die Atmosphäre ebenso wie all die anderen giftigen Stoffe, die in unser Wasser, unseren Boden und unsere Luft gelangen.

Könnte der Begriff „Materialgesundheit“ hilfreicher sein als der Begriff „Nachhaltigkeit“, weil er an der Basis ansetzt, bei den Molekülen und Teilchen, aus denen unsere Welt besteht, und daher nicht so leicht missverstanden oder gar missbraucht werden kann?
Jonsara: Ich glaube nicht, dass der Begriff der Materialgesundheit den der Nachhaltigkeit ersetzen kann, aber durch die Frage, wie sich die Produktion, der Einbau und die Entsorgung eines bestimmten Materials auf den Menschen, andere Lebewesen und unsere Erde während des gesamten Lebenszyklus auswirkt, bietet er einen Einstieg für alle. Es gibt viele Ansatzpunkte, um in das Thema Materialgesundheit einzusteigen – sei es die menschliche Gesundheitskrise und Toxizität, die Klimakrise, die soziale Gerechtigkeit, die Sorge um die Wasser- und Bodensysteme oder die Kreislaufwirtschaft und die Abfallproblematik. Aus diesem Grund lautet der Untertitel des Buches „Design Frontiers“. Wir sehen die Materialgesundheit als ein Grenzgebiet, das wir an jedem Punkt betreten können. Egal, ob wir ein/e Hersteller*in oder ein/e Designer*in sind, wir können einfach eine Klasse von Chemikalien eliminieren oder ein bestimmtes Material im Design ändern, um weniger Toxizität oder weniger Abfall zu erzeugen. Wenn wir eine einfachere, bessere Materialwahl treffen, ist das schon ein großer Erfolg. Wir wissen, dass dieses Wissen überwältigend und komplex sein kann, aber Luft nach oben ist immer. Wir sehen dies als eine Einladung und Gelegenheit zur Innovation.
Alison: Der Begriff Gesundheit ist auch deshalb so wichtig, weil keiner die Bedeutung von Gesundheit ignorieren kann. Wir streben für uns selbst, unsere Familien und unseren Planeten danach, gesund zu sein. Während Nachhaltigkeit ein wenig abstrakt sein kann, missbraucht und missverstanden werden kann, ist Materialgesundheit ganz einfach. Außerdem ist es eine ungewohnte Wortkombination, die zu der Frage veranlasst: „Was hat Gesundheit mit Materialien zu tun? “. Der Begriff wirft eine wichtige Frage auf, und das ist wirklich nützlich.
Jonsara: Und das ganz ohne Fachjargon. Es zwingt uns dazu, diese grundlegenden Fragen über ein Material zu stellen, die damit beginnen, was in ihm steckt, woraus es besteht, wo und wie es hergestellt wird, woher die Zutaten kommen, wer wohnt gegenüber der Fabrik, wer mischt den Brei zusammen?
Alison: All diese Fragen müssen jetzt gestellt werden, denn in den letzten 100 Jahren haben wir das nicht getan.

Welche Ressourcen bieten Sie im Healthy Materials Lab an?
Alison: Wir haben schon früh erkannt, dass die Materialgesundheit nicht in der Ausbildung von Architekt*inne und Innenarchitekt*innen vorkommt. Die Last, die bei ihrer täglichen Arbeit auf ihren Schultern lastet, ist immens. Wir bieten kostenlose Ressourcen wie unsere Materialsammlung mit Listen von Produkten an, die wir nach Kriterien wie Transparenz, Ungiftigkeit oder reduzierte Giftigkeit bewertet haben und die jede/r Architekturdesigner*in, ob Student*in oder Profi, verwenden kann. Wir haben auch Online-Lernmaterialien und eine Reihe von Online-Kursen entwickelt, die wir aus dem Kontext unserer Universität heraus mit Anbieter*innen wie Coursera zu Online-Kursen für breite Zielgruppen weiterentwickeln. Bei allem, was wir tun, betrachten wir uns als Praktiker*innen, nicht als Akademiker*innen. Als Architekt*innen und Designer*innen berücksichtigen wir bei unserer Arbeit die ästhetischen und materiellen Qualitäten der Dinge ebenso wie ihre Gesundheit. Beide sind gleichermaßen wichtig. Wir wollen mit Schönheit leben, in Räumen, die uns inspirieren.

Material Health
Fallstudie mit Hanf- und Kalkdämmung: Case di Luce, bioklimatischer Wohnkomplex von Pedone Studio (2016), Foto: Sergio Camplone

Sie haben erwähnt, dass kein Material, das Sie gefunden haben, in allen Kategorien perfekt abschneidet, aber dass es dennoch „Superstars“ gibt. Können Sie einen nennen?
Jonsara: Hanfkalk als Alternative zu herkömmlichen industriellen Dämmstoffen ist erstaunlich. Die Hanfpflanze absorbiert Kohlenstoff und regeneriert den Boden während ihres Wachstums. Sie kann auf eine Weise verarbeitet werden, die neue, gesündere Arbeitsplätze in der Landwirtschaft schafft. Sie kann zu einem vorgefertigten Material kombiniert werden, das ohne Flammschutzmittel und andere Chemikalien auskommt, vor Ort schnell montiert werden kann und dem Maurerhandwerk neue Möglichkeiten eröffnet. Es entstehen sehr energieeffiziente Gebäude, die atmungsaktiv sind, das Klima und die Luftfeuchtigkeit im Inneren regulieren und während ihrer gesamten Lebensdauer weiterhin Kohlenstoff absorbieren. Und irgendwann, in 120 Jahren, wenn das Gebäude abgerissen wird, nährt es wieder den Boden. Das ist eine Art wunderbare Supernahrung für Bau und Kultur.
Alison: Diese Betonung des Lokalen ist ebenfalls sehr wichtig. Im Gegensatz zur Großproduktion stützen sich diese landwirtschaftlichen Produktentwicklungen auf lokale bäuerliche Gemeinschaften. Es handelt sich um eine neue Art von Wirtschaft, die weniger zentralisiert und weniger auf staatliche Strukturen hin orientiert  ist, sondern es ermöglicht, lokale Wirtschaftskreisläufe zu entwickeln, die zum Beispiel auch indigene Gemeinschaften tragen und erhalten können. Die Hanffarm von Winona LaDuke in Minnesota ist ein solches Beispiel.

Wie wäre es mit einem Material, das als gesundes Material wahrgenommen wird, das Sie aber kritisch sehen?
Alison: Alles, wo „Bio“ draufsteht. Wir sind sehr kritisch gegenüber Dingen, die als biobasiert bezeichnet werden, es aber nicht sind, die zum Beispiel nur zwei Prozent Pflanzenanteil haben, aber auf dem Etikett betonen, ein biobasiertes Produkt zu sein. Für uns ist es wichtig zu verstehen, ob es wirklich auf einer Pflanze oder etwas Biologischem basiert und nicht schädlich ist, oder ob es sich nur um Greenwashing handelt.
Jonsara: Aber es gibt eine wirklich interessante Debatte auf molekularer Ebene. Stellen wir uns vor, mit neuen Technologien entsteht ein hocheffektives Bindemittel, das zu 80% Algen oder Stoffe aus anderen Pflanzen enthält – das ist erstmal fantastisch. Aber manchmal nimmt man Pflanzenstoffe und wandelt sie auf molekularer Ebene um, damit sie ähnlich wie eine Petrochemikalie funktionieren. Dann kann dieses Molekül, auch wenn es aus einer Pflanze stammt, immer noch eine schädliche Wechselwirkung mit unserem Körper haben. Nur weil es aus einer Pflanze gewonnen wird, ist es also nicht unbedingt besser. Das ist die Herausforderung. An dieser Stelle werden wir wirklich skeptisch und müssen unsere Kolleg*innen aus der Biochemie zu Rate ziehen, die sich mit der Frage der Toxizität befassen.

Was ist Ihre Vision für die Zukunft der Materialgesundheit im Design?
Jonsara: Materialgesundheit muss für jeden erschwinglich und zugänglich sein. Nur dann kann sie Wirklichkeit werden. Das ist das ultimative Ziel. Deshalb gilt unsere besondere Leidenschaft bezahlbaren Wohnungen, Sozialwohnungen oder allen Räumen, die von Menschen bewohnt werden, die nicht die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden.
Alison: Der Zugang zu gesundem Wohnraum bildet das Zentrum und den Ankerpunkt für alle unsere Erfahrungen, egal, wer wir sind oder woher wir kommen. Das ermöglicht es Ihnen uns und Ihrer Familie, sich zu entfalten. In diesem Sinne können Gebäude den Raum für einen sozialen Wandel schaffen. Die Materialien, die wir verwenden, sind Teil dieser Agenda.

Ich danke Ihnen, Alison und Jonsara, für dieses aufschlussreiche Gespräch.


HML kommt nach Deutschland
In den letzten Jahren hat das Healthy Materials Lab (HML) erkannt, wie wichtig es ist, lokale Veränderungen in der Politik und in den Vorschriften in der EU und in den nordischen Ländern zu verfolgen, wo zwei miteinander verknüpfte Themen behandelt werden – Toxizität in Gebäuden und integrierter Kohlenstoffgehalt. Auf diese Weise kann das HML-Team gute Beispiele für Strategien und Praktiken finden, die in den USA umgesetzt werden könnten. Das Team baut derzeit eine neue lokale Präsenz in Deutschland auf, um zu verstehen, wie und wo der Wandel stattfindet, und sucht nach lokalen Kooperationspartnern und Finanzierungsmöglichkeiten.


Material Health cover
Book cover Material Health, Photo: Healthy Materials Lab

Material Health: Design Frontiers

Von Parsons Healthy Materials Lab, herausgegeben von Jonsara Ruth und Alison Mears

Material Health: Design Frontiers bringt führende Aktivisten, Pädagogen, Designer, Wissenschaftler, Ärzte, Architekten, Kuratoren, Bauunternehmer, Künstler und Materialinnovatoren zusammen, um einen endgültigen Überblick über das aufkeimende Feld der Materialgesundheit zu geben.

Lund Humphries Publishers Ltd., 2022

ISBN: 9781848226173


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