Erwan Bouroullec ist der Hippie unter den zeitgenössischen Designer*innen. Er ist unkonventionell und versponnen, zugleich präzise und verbindlich. Für unsere Reihe „Designing Tomorrow“ trafen wir ihn in seinem Pariser Studio zum Gespräch, wo er seinen neuen Stuhl „Mynt“ für Vitra präsentierte.
von Jasmin Jouhar
Designing Tomorrow – das Interviewformat mit Menschen, die unsere Zukunft gestalten. Führende Designer*innen und Expert*innen aus Forschung, Entwicklung und Innovation gewähren Einblicke in ihr Arbeiten und Denken. Sie teilen ihre Haltungen, Zweifel, Ideen und Visionen. Sie sprechen über Themen wie Innovation, Verantwortung, Kreislaufwirtschaft und Künstliche Intelligenz – und darüber, wie diese Entwicklungen ihr Berufsbild neu definieren.

Produkte im Sinne der Kreislaufwirtschaft zu gestalten, so dass sie reparierbar, wiederverwendbar oder recycelbar sind, wird mehr und mehr zum Standard. Welche Folgen hat das für die Ästhetik der Dinge?
Ganz einfach: Die Ästhetik wird geerdeter. Das bedeutet, dass die Materialien so aussehen, wie sie sind, die Konstruktion wird offensichtlicher, und alles ist „transparenter“. Es gibt viele Gegenstände, die sich dem Bedürfnis nach visuellem Ausdruck widersetzen, wie zum Beispiel ein Hammer. Die meisten Werkzeuge sind sehr klar, leicht zu reparieren und leicht zu demontieren. Das liegt aber auch daran, dass man ihre Funktion nicht beeinträchtigen darf und dass sie effizient produziert werden müssen.
Wie würdest du dein Ethos als Designer definieren? Gibt es etwas, das du in der Vergangenheit getan hast, das du aus heutiger Sicht nicht wieder tun würdest?
In meinem Berufsleben kann ich tatsächlich einen Weg erkennen, und ich kann Dinge aus verschiedenen Phasen miteinander verbinden. Was ich heute bin, ist das Ergebnis dessen, was ich gewesen bin. Diese Geschichte kann ich nicht umschreiben. Wenn ich aber eins gelernt habe, dann, dass ich immer von denselben Dingen besessen bin: Ergonomie, einfache Montage, die Magie von Textilien … Ich weiß, dass ich bei jedem Projekt immer dieselben Träume mitbringe.
„Die Ästhetik wird geerdeter. Das bedeutet, dass die Materialien so aussehen, wie sie sind, die Konstruktion wird offensichtlicher, und alles ist transparenter.“
– Erwan Bouroullec

Möbel und Produkte für die Serienherstellung zu entwerfen bedeutet auch immer, die Rentabilität im Auge zu behalten. Wie kannst du als Designer dazu beitragen?
Es liegt ein Zauber darin, etwas für jemanden herzustellen, der es erwerben wird. Das ist eine der ältesten Tätigkeiten der Menschheit. Sie kann auf gegenseitigem Respekt und Freude beruhen. Eine der Kehrseiten unserer heutigen Zivilisation ist, dass die Kund*innen nur noch selten die Produzent*innen kennenlernen. Es ist noch gar nicht so lange her, da ging man zu einem Möbelhersteller und bat ihn, einen Tisch und Stühle anzufertigen. Es kam zu einem fruchtbaren Gespräch: „Was wollen Sie? Was habe ich zur Verfügung? Wie hoch ist der Preis?“ Das Beste an diesem Gespräch war die Empathie auf beiden Seiten, da jeder den Kontext des anderen verstand. Mein Ziel ist es, die Verkäufer*innen und Hersteller glücklich und stolz auf das Produkt zu machen, so dass sie dessen Qualität und Konstruktion ganz natürlich erklären können. Darin liegt die wahre Rentabilität.
„Mynt“ für Vitra ist ein schlanker Arbeitsstuhl, der visuelle Leichtigkeit ausstrahlt. War das das Ziel des Entwicklungsprozesses?
Ich würde sagen, dass wir nach dem besten Minimum gesucht haben. Arbeitsstühle sind immer komplexer geworden, mit immer mehr Verstellmöglichkeiten. Viele von ihnen schaffen eine visuelle Umgebung, die nicht sehr einladend ist. Hier haben wir angesetzt, um das beste Minimum zu erreichen. Das bedeutet, zunächst einmal so wenig Materialien und Ressourcen wie möglich zu verwenden. Das führt oft zu einer effizienten Konstruktion, die wie von selbst eine gewisse Eleganz mit sich bringt.
„Mynt“ verfügt über eine neu entwickelte Mechanik, bei der sich Sitz und Lehne unabhängig voneinander bewegen.
Arbeitszeit ist immer weniger monolithisch. Das heißt, es gibt nicht die eine Situation, in der sich die Aufgaben ständig wiederholen. Man braucht also Stühle, die aufgeschlossener sind. Die mit jeder Art von Aufgabe, jeder Art von Situation und jeder Person zurechtkommen. Die Mechanik von „Mynt“ schafft einen entspannten Zustand, unser Körper versteht schnell, was er zu tun hat. Man surft fast ein wenig auf dem Stuhl.


Mit Vitra verbindet dich eine langjährige Beziehung. Schon 2002 haben dein Bruder Ronan und du das Tischsystem „Joyn“ entworfen. Wie war es, als junges Designduo mit einem großen internationalen Unternehmen an einem so komplexen Produkt zu arbeiten?
Ich denke, ein Teil der Strategie von Rolf Fehlbaum (damaliger Geschäftsführer von Vitra und Sohn des Firmengründers, Anm. d. Red.) war es damals, einen neuen Ansatz für Büroumgebungen zu entwickeln. Um es einfach auszudrücken: Büros glichen damals alten Bildern mit großen, grauen Computern und ziemlich vielen speziellen Möbelstücken für bestimmte Funktionen. Die meisten Entwürfe waren sehr spezifisch und möglicherweise gut ausgeführt, aber der Nachteil war, dass die Arbeitsumgebung in ihrem eigenen Paradigma erstarrt war. Rolf wollte, dass wir aus der Perspektive von Menschen entwerfen, die ihre eigenen Arbeitsmethoden erfinden – wie Designer:innen oder Architekturbüros. Weil sie die Typologie des Büroarbeitsplatzes mit der der Werkstatt vermischen und je nach Projekte die Einrichtung neu konfigurieren. „Entwerft etwas, das zu euch passt. Versucht nicht, euch vorzustellen, was andere Arten von Arbeit brauchen, denn dann werdet ihr das nur nachahmen. Auch wenn etwas für euren eigenen Kontext entworfen wurde, ist es wahrscheinlich universeller, als ihr denkt.“ Er war sehr aufgeschlossen und beschützend zugleich und hat mich geprägt. Ich verdanke ihm viel.

Einfachheit sei das Schwierigste, heißt es. Siehst du das auch so?
Wenn man sich einen Baum anschaut, ist alles gut ausbalanciert und einfach zu verstehen. Man erkennt sofort, dass der Baum niemals unnötig Ressourcen verschwenden wird. Einfachheit kann erreicht werden, indem man sich auf strukturelle Qualität, auf Komfort und Leichtigkeit konzentriert. In den meisten Fällen führen diese Überlegungen zu etwas, das für unsere Augen und unsere instinktive Wahrnehmung sehr natürlich wirkt und das wir sofort akzeptieren werden. Es mag nicht das überraschendste oder beeindruckendste Kunstwerk sein, aber unsere Instinkte werden die Qualität der Konstruktion zu schätzen wissen.
Wie schaffst du Innovation im Designprozess? Kannst du das forcieren?
Es mag vielleicht überraschend klingen, aber ein Schlüsselelement ist Geduld. Was ist damit gemeint? Ein Designprojekt braucht in der Regel Zeit, um die ihm eigenen Zwänge und Möglichkeiten zu offenbaren. Meistens erkennt man sie in den ersten Iterationen, und diese Iterationen starten das Projekt Schritt für Schritt neu. Ich habe gelernt, zu warten. Mittlerweile sage ich, dass ich nicht wirklich „erschaffen“ will – ich entdecke lieber Probleme und löse sie kreativ. Diese Strategie zwingt mich dazu, die Dinge nacheinander anzugehen und stets zuzuhören.


Du bist auf dem Land aufgewachsen, in der Bretagne. Kannst du beschreiben, wie das Leben dort deine Kindheit geprägt hat?
Was es für mich zusammenfasst: das Fehlen bewusster kultureller Zeichen. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem Dinge aus einer Notwendigkeit heraus hergestellt wurden, mit so wenig Ressourcen wie möglich – und sie wurden immer wieder umgestaltet. Das hat mich dazu gebracht, in allem eine Möglichkeit zu sehen und zu verstehen, dass Arbeit immer Bindungen zwischen Menschen schafft. Das wiederum führt zu einer unglaublichen Kultur, die aber auch als unbeabsichtigt angesehen werden könnte.
Welchen Einfluss haben deine Erfahrungen auf dem Land auf deine Arbeit als Designer?
Da gibt es eine Sache: Ich hasse Snobismus. Ich hasse kulturelle Zeichen, die als Mittel zur Segregation eingesetzt werden. Das kommt vielleicht von meinem einfachen Leben auf dem Land. Manchmal versucht das Design zu sehr, durch Überraschung und Aufregung einen Wert zu schaffen, was zu einem begrenzten Publikum und kurzfristiger Wirkung führen kann. Mit dieser Art von Design fühle ich mich unwohl.





Erwan Bouroullec ist ein französischer Möbel- und Produktdesigner. Nach über zwanzig Jahren gemeinsamer Arbeit mit seinem Bruder Ronan führt er seit 2023 ein eigenes Studio. Zu seinen aktuellen Entwürfen zählen der Arbeitsstuhl „Mynt“ für Vitra, der Loungesessel „Arba“ für Raawii und die Outdoormöbel-Serie „Traverse“ für Hay. Bouroullec studierte Kunst und gestaltete über zwei Jahrzehnte hinweg preisgekrönte Produkte für Unternehmen wie Vitra, Flos, Artek, Samsung, Mutina und Kvadrat. Mit seinem neuen Studio setzt er seine gestalterische Arbeit unter eigenem Namen fort.

Über die Autorin
Jasmin Jouhar arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Zu ihren Themen gehören Design und Marken, Architektur und Innenarchitektur. Sie schreibt für eine Vielzahl deutschsprachiger Fach- und Publikumsmedien, darunter die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Online-Plattform Baunetz, die Magazine Schöner Wohnen und AD. Daneben moderiert sie Branchenevents und verantwortet Corporate Publishing-Projekte. Jasmin Jouhar engagiert sich mit Coachings, Workshops und Vorträgen in der Förderung des jungen Designs.
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