8 Min Lesezeit

Sie gestalten Ausstellungen, entwerfen Objekte und mischen sich in aktuelle Debatten ein. Indem sie die drängenden Fragen unserer Zeit kritisch, präzise und gleichzeitig in hoch ästhetischer Form thematisieren, gehören Andrea Trimarchi und Simone Farresin von Formafantasma zu den führenden Stimmen im Design. 

Von Martina Metzner

Ist Design mitverantwortlich für die Ausbeutung unseres Planeten und soziale Ungerechtigkeiten? Oder kann Design vielmehr im Einklang mit Mensch und Natur für bessere Verhältnisse sorgen? Die Disziplin Design stellt sich gerade selbst in Frage. Das überkommene Verständnis von Design als rein lösungsorientiertes Tool, das Dinge und Anwendungen formal und funktional besser machen kann, bröckelt. Stattdessen wird diskutiert, wie Gestaltung zur notwendigen Transformation entwickelter Industriegesellschaften beitragen kann, wie es heute verstanden und implementiert werden sollte. Mitten in diesem Diskurs, der engagiert und kontrovers geführt wird, stehen Designer*innen eines neuen Typus, einer neuen Generation – so wie Andrea Trimarchi und Simone Farresin von Formafantasma

Sprechen Probleme an: Formafantasma
Andrea Trimarchi und Simone Farresin sind Formafantasma. Bild © Rubelli

Recherche und radikale Referenzen

In der internationalen Designszene ist Formafantasma schon seit einigen Jahren bekannt für eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin, die zugleich sehr elegant daherkommt. „Wir lösen keine Probleme“, sagen Trimarchi und Farresin, die ihre Praxis als fortwährende Recherche, gleichsam als investigatives Design begreifen. „Wir sprechen Probleme an.“ Ihre Arbeiten sind gekennzeichnet von dem Blick aufs Ganze, von einer kritischen Reflexion, wie sie etwa das „Radical Design“ der 1960er Jahre in Italien mit Protagonisten wie Enzo Mari vorantrieb, auf den sie gerne verweisen.

Mit ihrem Team arbeiten sie interdisziplinär zwischen Kunst, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Design ist für Formafantasma ein Vermittler, der die verschiedenen Stränge zusammenführen kann und der lieber Fragen stellt, als Antworten zu geben. Trimarchi und Farresin hinterfragen Materialien, Herstellung, Marktmechanismen, Nutzungsgewohnheiten und veranschaulichen deren Auswirkungen auf die Umwelt. Sie sind, so könnte man salopp formulieren, Investigativ-Designer, die „Green Washing“ aufdecken und unbequeme Wahrheiten aussprechen. Diesen Ansatz würdigt auch die Jury der ICONIC AWARDS: Interior Products 2024 des Rat für Formgebung mit der Auszeichnung „Creator of the Year“ unter anderem mit den Worten: „Ihr Motto ist einfach: think before you design.“

Für Tacchini hat Formafantasma die Ausstellung „Flock“ konzipiert, die ausrangierte Schafswolle anstelle von Polyurethan-Schaum für Autositze vorschlägt. Bild © Andrea Ferrari

In der Ausstellung „Oltre Terra“ (National Museum of Norway, 2023) spürt Formafantasma dem komplexen Ökosystem von Mensch, Schaf und Wolle nach. Bild © Giorgio Gonella
Das fortlaufende Forschungsprojekt „Cambio“ (Serpentine Galleries, 2020) thematisiert das komplexe Verhältnis von Mensch, Wald und Holz. Bild © George Darrell

Vielfältig aktiv

Wie schon Enzo Mari, so ist auch das Design-Duo nicht nur in einem Genre zuhause: Die beiden gestalten Objekte, kuratieren Ausstellungen, forschen wissenschaftlich, schreiben Bücher, beraten Unternehmen und leiten Diskursformate. Andrea Trimarchi und Simone Farresin haben so vielbeachtete Ausstellungen wie „Cambio“ (2020) und „Oltre Terra“ (2023) realisiert, aber auch ganz klassisch Räume und Produkte entworfen und mit bekannten Marken wie Fendi, Hermès, Prada oder Vitra zusammengearbeitet. Die Gestaltung der zentralen Ausstellung der 59. Kunstbiennale von Venedig (2022) stammte ebenso von ihnen wie die Leuchte „WireRing“ für Flos. Dass sie all ihre Projekte ästhetisch avanciert gestalten, dürfte einen guten Teil ihres Erfolgs ausmachen. Besonders anschaulich wird die Arbeits- und Denkweise von Formafantasma bei der Ausstellung „Cambio“, die auch außerhalb der Design-Community viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: 2020 erstmals in den „Serpentine Galleries“ in London gezeigt und von Hans-Ulrich Obrist und Rebecca Lewin kuratiert, ist die Schau ein fortlaufendes Forschungsprojekt über das komplexe Verhältnis zwischen Mensch, Wald und Holz und darüber, wie Holz produziert, vermarktet, verwertet und genutzt wird.

„WireRing“ von Formafantasma für Flos. Bild © Flos
Seit Ende 2023 sind Formafantasma „Heads of Creative Direction“ des venezianischen Textilherstellers Rubelli. Bild © Federico Ciamei

Vom Menschen und vom Holz

In der Ausstellung begegnet man Objekten und Filmen, die das Thema kritisch beleuchten – ein Großteil der Filme besteht aus Interviews mit Expert*innen aus Botanik, Forstwirtschaft, Klimatologie, Ingenieurwesen, Umweltpolitik, Kunst und Philosophie, die Trimarchi und Farresin selbst geführt haben und die auf der eigens eingerichteten Website auch unabhängig von der Ausstellung zu sehen sind. Gegenstände wie Gitarren, Besen oder Pinsel hat Formafantasma vom Thünen-Institut in Hamburg auf die Herkunft des dafür verwendeten Holzes untersuchen lassen. Dabei stellte sich heraus, dass einige Produkte aus illegal geschlagenem Holz gefertigt wurden. Für die von ihnen selbst entworfenen Ausstellungsdisplays und Sitzgelegenheiten verwendeten Formafantasma hingegen einen Baum aus dem Val di Flemme im italienischen Trentino. 2018 hatte dort der Sturm „Vaia“ 13 Millionen Bäume entwurzelt und zerstört. 

„Stool 60“ von Alvar Aalto erscheint zum 90jährigen Jubiläum in der von Formafantasma kuratierten Sonderedition „Villi“ aus Birkenholz mit Makeln. Bild © Artek


Wilde Birke für einen berühmten Hocker

So holistisch wie Formafantasma Ausstellungen konzipiert, von denen man kaum glauben mag, dass sie von Designern gemacht wurden, so konkret münden ihre Ideen auch in Produkten. Jüngst hat das Duo in Kooperation mit dem finnischen Unternehmen Artek den berühmten Hocker von Alvar Alto aus „Wilder Birke“ neu aufgelegt. 90 Jahre nach seiner ersten Entstehung darf „Stool 60“ nicht mehr nur aus makellosem Holz, sondern in der Linie „Villi“ auch aus Birkenholz hergestellt werden, das wegen Knoten, Flecken und dunklerem Kernholz bislang nicht in Frage kam.

Jenseits von Dogmen

Dass Andrea Trimarchi und Simone Farresin heute als „führende Stimmen und Player“ in der Branche gelten, ist auch das Ergebnis ihres ungewöhnlichen Werdegangs. Während des Studiums am ISIA Design Institute in Florenz, wo sich die beiden jungen Männer aus Sizilien (Trimarchi, geboren 1983) und dem Veneto (Farresin, geboren 1980) kennenlernten, besuchten sie den Salone del Mobile in Mailand und sahen eine Ausstellung des niederländischen Designkollektivs Droog. Dieser experimentelle, freie und künstlerische Zugang zum Design faszinierte sie. Den beiden wurde klar, dass sie nicht einfach nur ein weiteres Rädchen im Getriebe der italienischen Designindustrie sein wollten, und so schrieben sie sich zum Studium an der Design Academy Eindhoven ein – ohne die Hochschule vorher besichtigt zu haben. An der Akademie in den Niederlanden, die für ihre unkonventionelle und zukunftsweisende Lehre bekannt ist, wurden sie schnell mit einer Kultur der kritischen Auseinandersetzung konfrontiert. „Wir hatten das Gefühl, dass dort unsere Generation von Designern eine Stimme hat, ohne die Dogmen, die die Jahre des glorreichen Designs in Italien hinterlassen hatten. Das war die beste Entscheidung unseres Lebens.“

Das Projekt „Ore Streams“ (Triennale Milano, 2017) setzt sich kritisch damit auseinander, wie man das Recycling von Metall verbessern kann. Bild © Ikon
 
Für „Botanica“ (Part, 2010) erforschten Formafantasma historische Alternativen von Kunststoff und formten aus einem aus natürlichen Rohstoffen (unter anderem Ochsenblut) Behältnisse. Bild © Luisa Zanzani

Nach ihrem Abschluss im Jahr 2009 gründeten die beiden ihr Studio, das sie Formafantasma tauften, zu deutsch „Geisterform“ – ein Verweis auf ihren Ansatz, über die formale Gestaltung hinauszugehen. Seitdem unterrichten sie auch an der Design Academy Eindhoven und leiten den Masterstudiengang GEO-Design, den der italienische Direktor und Kurator Joseph Grima 2020 ins Leben gerufen hat. Trimarchi und Farresin wollen durch ihre Lehre vor allem eines vermitteln: Dass die Studierenden eine ethische Haltung entwickeln. Für die junge Generation sind Formafantasma viel mehr Vorbild als die vielen Stardesigner*innen, die jedes Jahr einen weiteren neuen Stuhl vorstellen.

Zwei Designer, eine Idee

Rund zehn Jahre arbeiteten sie von Amsterdam aus, bis sie 2021 in ihre Heimat nach Italien zurückkehrten, ins Herz der Designindustrie. In Mailand haben sie in einem halbindustriellen Viertel im Nordosten der Stadt eine Werkshalle bezogen, in der man neben ihrem zehnköpfigen Team immer auch ihren Windhund „Terra“ antrifft. Noch nie haben die beiden ein Projekt einzeln betreut, sie arbeiten immer zusammen: „Ohne den anderen wäre unsere Arbeit nicht möglich. Wir sind eins.“ Nur die Kleidung teilen sich Trimarchi und Farresin, die auch privat ein Paar sind, nicht, bemerken die beiden lakonisch.

Seit ihrer Rückkehr ist Formafantasma noch stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Das Duo kooperiert mit vielen italienischen Institutionen und Firmen von Rang und Namen, gewinnt Preise, ist begehrt wie nie. Für die „Milan Design Week 2024“ kuratieren sie zum zweiten Mal das Diskussionsformat „Prada Frames“, diesmal zum Thema „Being Home“, zu dem sie Freund*innen und Verbündete im Geiste eingeladen haben. Darunter Paola Antonelli, die Kuratorin für Design und Architektur am MoMA in New York, die Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina, die Designkritikerin Alice Rawsthorn und der in Berlin lebende Architekt Sam Chermayeff. Neben der theoretischen Auseinandersetzung kommt auch die konkrete Gestaltung nie zu kurz: Unter anderem haben sie als neue „Heads of Creative Direction“ des venezianischen Stoffherstellers Rubelli dessen Kollektionen überarbeitet und neue Guidelines für das Designteam aufgestellt.


Für Prada veranstalten Formafantasma Diskursformate – wie hier zum Thema „Material in Flux“ während der Milan Dersign Week 2023. Bild © Formafantasma | Jacopo M. Raule, Lorenzo Palizzolo, Pietro S. D’Aprano

Durch ihre theoretische Auseinandersetzung, verbunden mit der Praxis und eingehüllt in eine ansprechende Form, hat Formafantasma erreicht, wonach sich viele Designer*innen heute sehnen: Nicht nur Produkte gut zu gestalten, sondern frühzeitig in den Prozess eingebunden zu sein, um Strategie und Inhalte mitzubestimmen. Und nicht zuletzt auch außerhalb der kleinen, feinen Design-Blase anerkannt und geschätzt zu werden. Wer weiß, vielleicht werden Andrea Trimarchi und Simone Farresin einmal rückblickend als Pioniere einer neuen Ära gelten, in der Design sich als wirksames Werkzeug der Veränderung bewährt und für die Verantwortung des Menschen gegenüber der Erde, dem Kosmos und den Lebewesen steht.

Creator of The Year 2024

Formafantasma wurden bei den ICONIC AWARDS 2024: Interior Products des Rat für Formgebung mit dem Sonderpreis „Creator of the Year“ ausgezeichnet.


Mehr auf ndion

Weitere Beiträge zum Thema Design und Menschen im Design.


Social Media:

Print Friendly, PDF & Email