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Paul Smith entwirft mehr als Mode und gilt als charismatischer Designer. Eine neue, pünktlich zum 50. Geburtstag seiner Marke erschienene Monografie fängt den Spirit und die Coolness seines Schaffens anhand von 50 Objekten ein, die Sir Paul über die Jahre begleitet und inspiriert haben.

Von Thomas Wagner.


Beginnen wir ausnahmsweise von hinten. „Im Alter von zwölf bis siebzehn Jahren“, schreibt Paul Smith im Text Nummer 50 der gerade zum 50. Geburtstag seiner Modemarke erschienenen Monografie, „träumte ich davon, Profi-Rennradfahrer zu werden. Ich hätte es nie geschafft – ich war nicht mutig genug oder nicht gut genug. Aber als ich eines Tages mit gesenktem Kopf und wahrscheinlich mit meiner Buddy Holly-Sonnenbrille, die sehr dicke Ränder hatte, die einen toten Winkel hätten bilden können, beim Training hinten in ein stehendes Auto einstieg, fuhr ich mit voller Geschwindigkeit. Ich fuhr in den Kofferraum und landete auf der Motorhaube. Als ich aufzustehen versuchte, kam ein Knochen – der Oberschenkelknochen – aus meinem linken Oberschenkel heraus. Es war sehr, sehr beängstigend. Ich hatte mir nicht nur meinen Oberschenkelknochen, sondern auch meine Kniescheibe, einige Rippen, meine Nase, mein Schlüsselbein und einen Finger gebrochen. Ich wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ich drei Monate lang behandelt wurde.“

Als Profi Radrennen fahren war schlagartig passé. Im Spital fand Paul neue Freunde, die er nach der Entlassung in einer Kneipe traf, in die auch viele Studenten der örtlichen Kunsthochschule kamen, die Mode, Grafikdesign und bildende Kunst studierten. „Die waren anders als alle Menschen, die ich zuvor getroffen hatte. Als sie über Leute mit Namen wie Oskar Kokoschka und Wassily Kandinsky sprachen, war ich fasziniert. Sie eröffneten mir eine ganz neue Welt. Unter ihnen war auch ein Mädchen namens Janet Campbell, deren Vater ihr ein kleines Kleidergeschäft eröffnete und die mich fragte, ob ich ihr helfen würde.“

Paul half – und lernte das Modegeschäft kennen: „In diesen fünf oder sechs Jahren hatte ich sehr viel gelernt. Und ohne diesen Unfall mit dem Fahrrad kann ich mir nicht vorstellen, wie es dazu gekommen wäre.“


In Nottingham, wo Paul Smith 1946 als Sohn eines Schneiders geboren wurde, eröffnet er 1970 sein erstes eigenes Modegeschäft und lässt seine Marke eintragen. Pauline Denyer, seine damalige Freundin, die Modedesign studiert hat, stellt für ihn Kontakte her. 1976 präsentiert er seine erste Herrenkollektion in Paris und eröffnet wenig später einen Laden in London. Schon bald ist Smith international bekannt. Weitere Stores kommen hinzu, und 1993 bringt er auch eine Damenlinie heraus.

Ein Portrait aus 50 Objekten

Paul Smith

Die von Tony Chambers, Gründer und Kreativdirektor des Design- und Lifestyle-Beratungsunternehmens TC & Friends und Co-Vorsitzender von Brainstorm Design, herausgegebene Monografie, fängt die Lockerheit und den Spirit des legendären britischen Modeschöpfers auf ganz besondere Weise ein: Sir Paul – er wurde 2000 für seine Verdienste um die britische Modeindustrie in den Adelsstand erhoben – hat die Texte des Buches nämlich selbst geschrieben, und dazu 50 Objekte ausgewählt – lauter Dinge, die etwas aussagen über ihn, seinen Blick auf die Welt, über Menschen und Gegenstände, die ihn inspiriert haben, und über seine Art, Kleider und vieles andere zu gestalten. Von all dem erzählt er mit typisch britischem Understatement, im Ton distinguiert, aber nie eitel, und in der Sache stets souverän.

Sir Paul ist ein unterhaltsamer Chronist, der überraschende Perspektiven eröffnet und den Erzählfaden von seiner Kodak Retinette-Kamera, der Liebe zu Rennrädern über Samtanzüge der späten Sechzigerjahre und die Entwicklung der für ihn typischen farbigen Streifen bis hin zu jüngsten Kollektionen und Kooperationen spannt. „Regelmäßige Brainstorming-Sitzungen um 8:30 Uhr in seinem Hauptquartier in Covent Garden (das ist für Paul der späte Vormittag)“, so Chambers, „brachten unzählige Geschichten ans Tageslicht und setzten eine Fülle von Ideen frei. Wir waren uns beide von Anfang an darüber im Klaren, dass dieses Buch weder ein retrospektiver Katalog mit den größten Erfolgen sein sollte, noch sollte es nur um Mode gehen.“

Auf die Webart kommt es an

So berichtet Smith beispielsweise über einen Fadenzähler, ein kleines Messing-Objekt mit einer Lupe: „Man schaute durch ihn hindurch, um zu sehen, wie viele Kett- und Schussfäden in einem Stoff vorhanden waren, so dass man sehen konnte, wie locker oder kompakt die Webart des Stoffes war. In der Zeit von 1970 bis 1976 war der kleine Laden, den ich Nottingham eröffnet hatte, nur an zwei Tagen in der Woche geöffnet. Den Rest der Zeit tat ich andere Dinge, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Eines davon war das Entwerfen von Stoffen für Leigh Mills in Yorkshire. Eine Sache, die man dabei tun musste, war, sich die Zusammensetzung des Stoffs genau anzusehen, um zu sehen, wie eng man ihn webte und wie fest das Garn selbst gezwirnt war. Ich habe den Fadenzähler nicht wirklich oft benutzt, aber ich hatte ihn immer in meiner Tasche.“

Paul Smith

Er kann genau hinsehen

Dass Smith genau hinsehen kann, davon spricht auch der langjährige Apple-Designer Jonathan Ive in seinem Vorwort: „Die Sache an Paul Smith, und das ist bemerkenswert, ist, dass er wirklich sieht. Er entscheidet sich nicht dafür, innerhalb vorhersehbarer Kategorien zu sehen; er ignoriert die Zwänge, die durch die traditionellen Dogmen der Kunst und des Designs aufgestellt wurden. Er sieht nicht nur das, was ihn interessiert. Sein Blick reicht weiter und tiefer – und er umarmt die Welt mit einer atemberaubenden Strenge, Konzentration und Nachdenklichkeit; und er findet Freude, Entzücken und ein Versprechen in dem, was er sieht.“ Chambers bescheinigt Smith noch auf einem anderen Feld besondere Fähigkeiten, wenn er feststellt, dieser habe „jahrelang instinktiv das getan, was Geschäftsgurus heute als ,Design-Thinking‘ und ,Empathie für den Kunden‘ beschreiben – mit anderen Worten, er hat anders und kreativ (wie ein Designer) über sein Unternehmen nachgedacht“.

Es ist ein sehr altmodischer Ansatz: Man nimmt einfache Dinge und ist in der Lage, etwas aus ihnen zu machen.

Paul Smith

“It’s a very old-school approach: taking basic stuff and being able to do something with it.“

Rams und das Schuhdesign

Und so erzählt Smith von dem französischen Radrennfahrer Jacques Anquetil und dass ihn am Radrennsport Kameradschaft, Anstrengung und Konzentration interessiert haben. Dass es, obwohl es beim Radrennen darum ging, „mit anderen Menschen zu arbeiten und zu lernen, ihre Stärken zu nutzen und sich an ihre Schwächen anzupassen“, für ihn auch „um Stil und Aussehen“ ging. Oder er berichtet, wie er auf die Bauhaus-Bewegung stieß und es ihn faszinierte, dass die Studierenden am Bauhaus Dinge anders machten – „zum Beispiel Möbel aus Chromrohr, beeinflusst vom Fahrradlenker“. Ein anderes Mal erfährt der Leser, dass es kein Zufall war, als Smith 2018 mittels einer Capsule Collection Anni Albers, der Webmeisterin des Bauhauses, seine Reverenz erwiesen hat. Und bei all den wunderbaren Geschichten überrascht es auch nicht, dass auch Paul Smith ein Faible für das Design von Dieter Rams und Braun hat, was unter anderem dadurch belegt ist, dass sein Laden der einzige in Großbritannien war, wo man den Braun-Taschenrechner kaufen konnte, als dieser 1987 herauskam. Und dann ist da noch die folgende Geschichte: „Eines Tages“, so Smith, „brachte ich bei einem Design-Meeting ein Radio mit, das von Rams für Braun entworfen worden war – das reinste und schönste Design, hellbeige und grau, sehr einfach. Ich sagte zum Schuhdesignteam: ,Das ist ein Paar Schuhe!‘ Ich war mir nie sicher, ob sie wirklich verstanden haben, was ich meinte, aber am Ende hatten wir einige sehr schöne Schuhe.“

Paul Smith

Ironie mit Nadelstreifen

Diese und viele andere Geschichten demonstrieren ebenso wie all die bunten Streifen, Äpfel, Spaghetti und Muster, die er auf Shirts und Jacken zaubert, aufs Schönste: Paul Smith ist ein Meister des Details, der mit subtiler Ironie den Nadelstreifenstoff des britischen „businessman“ aufzuheitern und in etwas Farbenfrohes zu verwandeln versteht – wobei er sich bei aller Extravaganz eben auch als Meister des Understatements erweist. Ob er – ganz aktuell – bei edlen Koffern von Globe-Trotter auffällig und dezent zugleich an Ecken, Scharnier- und Fixierbändern farbige Akzente setzt, oder ob er einem Wecker von Braun statt eines gewöhnlichen gelben einen bunt-gestreiften Sekundenzeiger gönnt, damit die Zeit freudiger voranschreiten kann – Mensch und Marke bleiben bei Paul Smith untrennbar miteinander verbunden.


Paul Smith
Hrsg. Tony Chambers
Vorwort von Jonathan Ive
Phaidon, London 2020
ISBN 9781838661274
65,00 Euro

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