Ist das Cabriolet ein Anachronismus – oder stehen wir vor einer Renaissance des Fahrens im offenen Wagen?
Von Andrej Kupetz.
Als ich meine Frau kennenlernte, fuhr sie einen Alfa Romeo Spider. Es war ein Modell der Serie 4 – die letzte Version des Klassikers –, Baujahr 1991. Die Serie 4 hatte ein nahezu rechteckiges Heck mit einem eleganten durchgängigen Leuchtband. Vorne, unter der endlos langen Haube, pochte das Herz dieser Bella Macchina, ein 2,0-Liter-Motor mit oben liegenden Nockenwellen.
Ich fand, dass das Auto sehr gut zu meiner Frau passte. Es war einfach nur fantastisch. Kleine Macken wie beispielsweise der Kabelbaum, der gelegentlich auf die Knie des Beifahrers plumpste, oder die Türfüllung, die mit einem beherzten Ellbogenstoß in die Ausgangsposition befördert werden musste, nahm man gerne und billigend in Kauf. Ich wurde ein überzeugter Cabriolet-Aficionado.
Das Cabriolet – ein Lebensgefühl
Wir fuhren mit dem Spider – natürlich – am liebsten nach Italien, entweder via Innsbruck über den Brenner Richtung Verona oder über den Gotthardpass nach Genua und die Versilia-Küste entlang bis Livorno. Natürlich fuhren wir am liebsten offen. Das war nicht immer einfach, denn die offensichtliche Übermotorisierung des Wagens verleitete dazu, schneller zu fahren, als es die Fahrtwindverhältnisse zuließen. Das Nardi-Holzlenkrad begann bei 120 km/h zu zittern, es saß längst keine Frisur mehr, die Sonne brannte unerbittlich auf die Stirn und die Lautstärke war einfach nur ohrenbetäubend. Während die Mercedes- Ingenieure 1989 das geniale Windschott erfanden, das den Fahrtwind so umlenkt, dass auch offenes Fahren bei hoher Geschwindigkeit möglich ist, war dieser italienische Roadster einfach nur schön. Aber nicht gemacht für ein Land mit viel Regen und nur wenigen Tempolimits.
Der Beginn einer neuen Ära
Schön war der Roadster, mit dem die Marke Tesla 2008 in Erscheinung trat, nicht gerade. Vielmehr erinnerte der Wagen in seinem Design stark an die Lotus Elise, von der für die Produktion viele Bauteile übernommen wurden. Und dennoch begründete der Roadster eine neue Ära. Nicht nur, dass er das erste Serienfahrzeug der Marke Tesla war. Oder das erste Elektrofahrzeug überhaupt, das mit handelsüblichen Lithium-Ionen-Akkus, wie sie in Laptops und Smartphones verwendet werden, betrieben wurde. Vielmehr machte der Roadster die Elektromobilität attraktiv. Denn, wie jedes Cabriolet, war auch der erste Elektro-Roadster der Neuzeit schlicht und einfach übermotorisiert. Mit seinem Getriebe erreichte das Fahrzeug 100 km/h in etwa 3,7 Sekunden. Um die Akkus nicht unnötig zu belasten, wurde der Wagen zugunsten einer höheren Reichweite bei 201 km/h elektronisch abgeregelt. Diese eingebaute Selbstzensur machte so das Auto zu einem Vernunftfahrzeug in der Gestalt einer PS-Bestie.
Heute – elf Jahre nach der Präsentation des Tesla Roadsters, vier Jahre nach Dieselgate und drohenden innerstädtischen Fahrverboten – diskutieren selbst die Deutschen über ein Tempolimit auf ihren Straßen. Eine Chance für die Renaissance des Cabriolets ist es allemal – eine Renaissance des schönen, eleganten Fahrens, so wie es das Mercedes-Designteam um Gorden Wagener bereits 2017 in Pebble Beach präsentierte. Das Mercedes-Maybach 6 Cabriolet ist designte Unvernunft – und trotz seiner schieren Größe von 5,70 Metern Länge und 2,10 Metern Breite ein reines Elektroauto. Vier Motoren erzeugen gemeinsam 550 kW. Das ist allemal genug, um diese Yacht auf Rädern in 3,8 Sekunden auf 100 km/h zu beschleunigen. Bei 250 km/h wird auch hier elektronisch abgeregelt.
Eine Vision der automobilen Luxusklasse
Es mag wie ein Anachronismus erscheinen – oder eben wie die überzeugende Antwort der Marke Mercedes-Maybach auf die Herausforderung Elektromobilität. Während andere Hersteller um eine vernünftige und sachliche Designsprache ringen, ist die Vision Mercedes-Maybach 6 Cabriolet das absolute Gegenteil: Hochemotional und ästhetisch souverän weist diese Vision der Kultur der automobilen Luxusklasse einen Weg in die elektrische Zukunft, der uns staunen lässt: Chapeau! Jetzt, da das Tempolimit naht und unsere Zukunft elektrisch wird, sollten wir die Limitierung als Chance betrachten: eine Chance für mehr Schönheit, Eleganz und Gelassenheit auf unseren Straßen.
Der Autor: Andrej Kupetz
Hauptgeschäftsführer Rat für Formgebung (bis Juni 2020)
Andrej Kupetz (*1968) studierte Industriedesign, Philosophie und Produktmarketing in Berlin, London und Paris. Nach beruflichen Stationen in den Bereichen Designmanagement und Hochschultransfer wechselte er 1997 zur Deutschen Bahn AG. Dort war er für die Markenführung im Konzern sowie für die Implementierung verschiedener Corporate Design-Prozesse verantwortlich.
Kupetz ist Mitglied im Fachbeirat des Design Management Institute Boston. Seit 2011 gehört er dem Hochschulrat der HfG Offenbach am Main an. Im selben Jahr wurde er von der Europäischen Kommission in das European Design Leadership Board berufen. Er ist verheiratet und hat drei Söhne.
Dieser Kommentar erschien erstmals im designreport 02/2019.