„Formgiving“ heißt das neue Buch der Bjarke Ingels Group. Es stellt rund 100 Bauten und Projekte des dänischen Architekturbüros vor und eilt unter Führung der Architektur im Sauseschritt vom Urknall in eine Zukunft planetarischer Migration.
Von Thomas Wagner.
Eine Müllverbrennungsanlage, an deren Fassade man klettern, und auf deren Dach man Skifahren kann. Eine Fußgängerbrücke, deren Gehäuse einmal um die eigene Achse gedreht ist. Ein Uhrenmuseum, das spiralförmig aus dem Boden auftaucht. Ein Wolkenkratzer, dessen Struktur sich, je höher sie hinaufreicht, mehr und mehr aufzulösen scheint, und ein anderer, in dessen Mitte einige Geschosse gezielt aus der Reihe tanzen. Die Reihe der Beispiele ließe sich lange fortsetzen, schließlich eilt Bauten der Bjarke Ingels Group der Ruf voraus, erfrischend anders zu sein. BIG, wie das 2006 von Bjarke Ingels gegründete Büro kurz und bescheiden heißt, hat offenbar den Dreh raus. Wer den smarten Bjarke selbst einmal bei der Präsentation eines Projekts erlebt hat, der weiß, wie eloquent dieser Tausendsassa seine Konzepte zu präsentieren versteht.
Vom BIG Bang zur Einzigartigkeit
Nach „Yes is more!“, einem „Archicomic on Architectural Evolution“, und „Hot to Cold“, einer „Odyssey of Architectural Adaption“, ist „Formgiving, an Architectural Future History“, das dritte im Taschen Verlag erschienene Buch, in dem BIG gewohnt selbstbewusst Evolution, Gegenwart, Zukunft und Architektur miteinander verbindet. Die als Katalog der Ausstellung gleichen Namens im Dänischen Architekturzentrum (DAC) in Kopenhagen konzipierte Publikation rollt auf mehr als 700 Seiten nicht weniger als eine Geschichte der Zukunft „from BIG Bang to singularity“ aus und stellt zugleich etwa 100 Bauten und Projekte vor, die das umtriebige Büro in weltweit entworfen und realisiert hat – von Wohnhäusern über auf den Ozeanen schwimmenden Ökosystemen bis zu Habitaten auf Mond und Mars.
Oberflächlich oder visionär?
Ob man, was BIG baut und in „Formgiving“ vorschlägt, nun oberflächlich oder visionär findet – unter den Stars der globalen Architekturszene gibt es nur wenige, die es geschafft haben, sich innerhalb einer auf Aufmerksamkeit basierenden Ökonomie und ihrer Social-Media-Kanäle so dauerhaft in den Vordergrund zu spielen. Für Rem Koolhaas, in dessen Rotterdamer Büro OMA Bjarke Ingels einige Jahre gearbeitet hat, verkörpert dieser einen komplett neuen Typus von Architekten, der perfekt auf den aktuellen Zeitgeist abgestimmt ist.
Das Prinzip klingt simpel: „Das dänische Wort für ,Design‘ ist ,formgiving‘, was wörtlich bedeutet: dem, was noch nicht Gestalt angenommen hat, eine Form geben. Mit anderen Worten: der Zukunft eine Form geben.“ In der Gegenwart zu wirken genügt nicht: „Genauer gesagt: der Welt eine Form geben, in der wir alle gerne eines Tages leben würden. Um zu spüren, dass wir die Lizenz haben, uns eine Zukunft vorzustellen, die sich von der heutigen unterscheidet, müssen wir nur zehn Jahre, hundert Jahre, tausend Jahre zurückblicken, um zu erkennen, wie radikal anders die Dinge damals waren, als sie heute sind. Da wir aus unserer Vergangenheit wissen, dass unsere Zukunft anders sein wird als unsere Gegenwart, können wir nicht darauf warten, dass sie von selbst Gestalt annimmt, sondern haben die Macht, ihr eine Form zu geben.“
In die Zukunft stürmen
Für die Dialektiker der BIG-Geschichte beginnt die Reise in die schöne neue BIG-Zukunft beim BIG Bang vor rund 14 Milliarden Jahren und endet nur vorläufig auf dem Mars. Da es beim Sturmlauf in die Zukunft allein auf das Machen ankommt, folgt, kaum ist überhaupt Materie entstanden, sofort deren Gestaltung: „Die Evolution des Machens beginnt bei der Entstehung der Materie und ihrer Manipulation durch Handwerk und Industrie und reicht bis zur Roboterkonstruktion.“ Vom Anfang der Zeiten bis zur Besiedlung ferner Planeten, BIGs Gestaltungswille akzeptiert keine Grenzen. Und so präsentiert sich als Ziel der im Sauseschritt durchmessenen Menschheitsentwicklung und als Krone der Schöpfung – der Architekt! Weil man über die Lizenz zur Dominanz heutzutage aber nicht gern spricht, ist verräterisch oft von „wir“ die Rede.
Die Projekte ranken sich dann um sechs Evolutionsstränge: „Making“, „Sensing“, „Sustaining“, „Thinking“, „Healing“ und „Moving“. „Sensing“ zum Beispiel, führt „uns“ von „der physischen Realität zur Augmented Reality“. Nach Web und Social Media unterwerfe das Internet der Dinge (IoT) endlich auch jedes einzelne physische Objekt „der Macht der Algorithmen“. Gibt es für jedes Objekt einen digitalen Zwilling, ist die Sache klar: „Diese Plattform, die Mirrorworld, bedeutet die Rückkehr der Relevanz der Architektur.“ Fragen, Zweifel, Zögern? Die pragmatischen Utopisten sausen ungebremst ins Kommende.
Ein janusköpfiges Unterfangen
Solange es abstrakt bleibt, werden problematische Annahmen als Tatsachen verkauft, Allerweltsweisheiten als Zukunftsvisionen präsentiert. Erst wenn es anhand der in zehn Kategorien einsortierten Bauten und Projekte konkret wird, zeigen sich, bei aller Show, die Qualitäten von BIGs Architektur. Dann untersucht man Bauten, die unter „The Oxymoron“ rubriziert sind, unwillkürlich darauf, welche einander widersprechenden Funktionen oder Aktivitäten in ihnen zu einer neuen Einheit verschmolzen wurden. Besser noch erschließt sich BIGs Pluralismus des Machens, wenn unter „The Response“ deutlich wird, wie „responsive Architektur“ Formen hervorbringen kann, „indem sie auf die klimatischen Bedingungen, den sonst unsichtbaren Kontext der Sonnenstrahlen und thermischen Strömungen reagiert“. Hätten die schlauen Köpfe von BIG ihre Projekte ausführlicher beschrieben und erklärt, es hätte weniger bedeutungsschwerer Sprechblasen bedurft, um die eigene Lizenz zum Machen zu rechtfertigen.
Ein Geschenk
Es wirkt zweifellos sympathisch, wie sich viele Bauten der Bedürfnisse ihrer Nutzer annehmen, wie für Nachhaltigkeit und neue Kreisläufe plädiert wird – und doch kommen in „Formgiving“ immer auch die Paradoxien zum Vorschein, in die sich ein Denken verstrickt, das die „Kraft des Gestaltens“ vorbehaltlos von einem Objekt, einem Gebäude, einer Nachbarschaft, einer Stadt oder einem Land auf „den Maßstab und die Reichweite unseres gesamten Planeten anwenden“ will. War und ist es nicht diese Kraft, die mit herbeigeführt hat, was überwinden zu wollen, hier wortreich behauptet wird? BIG möchte der Menschheit „die weltverändernde Kraft der Architektur“ zum Geschenk machen, um die Welt so zu gestalten, „wie wir sie uns wünschen“. Unser Wunsch ist bescheidener: Weniger Bäng und mehr BIG.
TASCHEN
BIG. Formgiving. An Architectural Future History
Softcover, 16,3 x 25 cm, 1,98 kg, 736 Seiten
Text englisch
Taschen Verlag, Köln 2021
ISBN 978-3-8365-7704-5
40 Euro
Mehr über BIG
Website der Bjarke Ingels Group.
Mehr auf ndion
Mehr zum BIG Projekt Copenhill erfahren Sie in unserem Beitrag Ökologische Wende jetzt: Grüne Bauprojekte mit Zukunft.
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