Ornament und Vergnügen: Er hat das Pirelli-Hochhaus in Mailand, atemberaubende Villen in Caracas, einen superleichten Stuhl und Interieurs von flirrender Eleganz entworfen. Nun feiert der Taschen-Verlag in einem großartigen Band das vielseitige Œuvre von Gio Ponti.
Von Thomas Wagner
Der Chiavari ist ein schlanker Stuhl aus Kirschholz mit Sprossenlehne und geflochtenem Sitz. Ursprünglich entworfen wurde er 1807 von Giuseppe Gaetano Descalzi, einem Möbelbauer in Chiavari, einer Kleinstadt an der ligurischen Küste Italiens. Für Gio Ponti, den Kenner und Bewunderer einer vielfältigen mediterranen Kultur, war der Chiavari in den 1950er-Jahren der ideale Ausgangspunkt für einen leichten, stabilen, formal prägnanten und dabei eleganten Stuhl: den „Superleggera“. Filigran machen ihn seine dünnen Standbeine, die unten und oben, wo sie auf die nach hinter geneigte Lehne treffen, einen dreieckigen Querschnitt aufweisen (die technische Umsetzung war eine Herausforderung für Fausto Redaelli, den Chef der Holzwerkstatt bei Cassina). Ponti selbst schrieb über den großen Erfolg dieser Ikone des „Stile italiano“:
„Gegenüber Stühlen mit hochtrabenden Namen (…) kam dieser Stuhl-Stuhl geradezu aus dem Nichts, dieser unscheinbare Stuhl, schlicht und unschuldig, wurde mit der Zeit wie eine Offenbarung gefeiert. Dieser uralte Stuhl, den es immer schon gegeben hat, dieser Urstuhl wurde als Neuheit begrüßt, als die Erfindung des Stuhls schlechthin: Er wurde fotografiert, verkauft, nach Amerika exportiert (…). Und die Moral von der Geschicht: Angesichts des rauschhaften Strebens nach Kreativität, angesichts der kreativen Rastlosigkeit unserer Zeit, angesichts der ängstlichen Bemühung, auch dem kleinsten Nägelchen noch den eigenen Stempel aufzudrücken, haben wir uns so weit von der Spontaneität des Wahren, Natürlichen und Einfachen entfernt, dass das Erscheinen eines einfachen Gegenstandes, natürlich, schlicht, ,real‘ und aus der Spontaneität heraus geboren, die Menschen in Erstaunen versetzt und einen völlig unerwarteten Erfolg erntet.“
Manchmal ist es ein Mysterium, was der Zeitgeist liebt und preist.
Wer sich nur ein wenig für Mailand, Architektur und Design interessiert, kennt zumindest zwei von Pontis Entwürfen: Den filigranen „Superleggera“ und das prägnante, unweit des Mailänder Hauptbahnhofs gelegene Pirelli-Hochhaus. Wem das nicht reicht, weil er oder sie intuitiv ahnt, dass sich hinter dem Namen Gio Ponti (der Vorname Giovanni stile milanese) verkürzt, mehr als einer von vielen Architekten verbirgt, die im 20. Jahrhundert in Italien so gut gedeihen konnten, der wird in dem großartigen Band des Taschen-Verlags mit einer reichen Auswahl aus Pontis vielfältigem Œuvre und einer Fülle von Facetten seiner Art des Gestaltens beschenkt.
Was die Kultur Norditaliens auszeichnet
Gio Ponti (1891 bis 1979) war ein Ausnahmegestalter, einer, der vom Stuhl bis zum Hochhaus, vom Interieur bis zur Kaffeemaschine, vom Museum bis zur Kathedrale alles entworfen hat, was den Alltag formt und das Verständnis für die Gestalt der Dinge weckt und prägt. Er war aber nicht nur ein vielseitiger und erfolgreicher Architekt und Designer. Der talentierte Zeichner und Maler schrieb als Autor und Chefredakteur auch Mediengeschichte. Und er agierte strategisch geschickt als Promoter des italienischen Industriedesigns. An seinem Gesamtwerk und an mancher Wendung in seiner Entwicklung lässt sich wenigstens zweierlei erkennen: Dass der Künstler, nach einem Wort Schillers, immer ein Sohn seiner Zeit bleibt (ohne zu ihrem Günstling werden zu müssen); und dass jenseits der klischeehaften Vorstellungen von „der“ Moderne ein weites und fruchtbares Land existiert, das bis heute vieles von dem beherbergt, was die Kultur des Gestaltens in Norditalien auszeichnet.
Funkelnde Einfachheit
Mit dem in jeder Hinsicht gewichtigen, in enger Zusammenarbeit mit dem Gio-Ponti-Archiv entstandenen und vom Berliner Art Director Karl Kolbitz herausgegebenen und gestalteten Band ist dem Verlag nicht nur eine würdige Hommage an einen Ausnahmekünstler gelungen. Die ansprechend luftig und präzise layouteten Seiten des Schwergewichts – der Band, 572 Seiten im Format 36 mal 36 cm, darin 136 reich bebilderte Projekte, bringt fast sechs Kilogramm auf die Waage – nehmen einen vielmehr mit auf eine Entdeckungsreise. Je länger sie dauert, desto deutlicher erkennt man, wie genau und detailversessen, zugleich wie liebevoll und verspielt Gio Ponti die scheinbar so strengen Regeln der Moderne in eine zutiefst humane, nie öde oder gar langweilige, sondern stets anregend elegante „semplicità“, in eine von den Traditionen Italiens inspirierte, im Licht der Moderne gleichsam funkelnde Einfachheit zu verwandeln verstand. Nicht zufällig sprach er selbst von Architektur als einem Kristall.
Ponti war fast sechs Jahrzehnte lang aktiv, von den 1920er- bis Ende der 1970er-Jahre. Schon 1923 wurde er künstlerischer Leiter der Porzellanmanufaktur Richard-Ginori und gehörte zu den Mitbegründern der Triennale in Monza. 1927 eröffnete er sein erstes Architekturbüro in Mailand, zusammen mit Emilio Lancia, mit dem er 1926 sein erstes Projekt, ein Wohnhaus in der Via Randaccio 9 in Mailand, realisiert hatte. Wie rege er war, zeigt sich auch daran, dass er 1928 zusammen mit Gianni Mazzocchi die Zeitschrift „Domus“ gründete.
Ein Motor, aus dem konzentrierte Energie in Form von Kaffee fließt
Dass Pontis Werk sich inmitten all der Auf- und Umbrüche des 20. Jahrhunderts, von den explosiven Maschinenträumen der Futuristi über die neoklassizistisch orchestrierte Macht der Faschisten bis zur aufblühenden Industriekultur der Nachkriegszeit, entfaltete, hat es eher bereichert als beschränkt. In der Zeit des Faschismus etwa balancierte er deren Zugriffe auf die Architektur geschickt durch antike und rationale Elemente aus. Ohne sich einer der Ideologien hinzugeben, nahm er den einen oder anderen Impuls aus der Zeit. So entwarf er etwa für La Pavoni die Kaffeemaschine „La Cornuta“ als Skulptur aus glänzendem Metall im Geist des Futurismus. In ihrem kraftvollen Profil verbinden sich Mechanik und Energie, Eleganz und Maschinenästhetik. La Cornuta ist nicht einfach eine mechanische Maschine zur Zubereitung des typischen italienischen „caffè“; sie ist ein Motor, aus dem konzentrierte Energie in Form von Kaffee fließt.
Leicht, schlank, elegant
Der Bogen von Pontis Aktivitäten und Projekten ist denn auch weit gespannt. Neben Keramiken, Besteck, Leuchten, der Villa Bouilhet (1926-27), dem Bau der Mathematischen Fakultät in Rom (1932-35), dem ersten Bürogebäude für Montecatini (1935-38) und so manchem extravaganten Interieur sticht die unglaubliche Villa Planchart in Caracas (1953-57) besonders heraus, ein, wie es heißt, „spektakuläres Schauspiel von Räumen für jeden, der es betritt“. Auch bei der wie ein Schmetterling auf dem Boden ruhenden Konstruktion spielt eine zur Eleganz gesteigerte Einfachheit eine zentrale Rolle. Überhaupt erreicht Pontis Meisterschaft in den 1950er-Jahren ihren Höhepunkt. Die ebenfalls in Caracas gelegene, leider nicht mehr existierende Villa Arreaza (1954-56) trug den Spitznamen „La Diamantina“, weil ihre Wände mit rautenförmigen Keramikfliesen bedeckt waren. Und auch das Pirelli-Hochhaus (1956-60) bezieht einen Teil seiner Faszination aus seiner „intelligenten Konstruktion“ und dem Verzicht auf Räume mit starren rechten Winkeln.
Immer wieder zeigen sich kristalline Strukturen, wenn Ponti gegeneinander verschobene Räume, verschachtelt, aus dem rechten Winkel springende und sich befreiende Grundrisse zeichnet. Der Bogen spannt sich weiter über das Hotel Parco dei Principi in Rom (1961-64) über das verschlossen wie eine Burg oder ein Kastell auftretenden, sich nur durch schmale Schlitze öffnenden Denver Art Museum (1966-72) zu der ein Segel als Fassade für den Himmel aufspannenden Kathedrale Gran Madre di Dio in Tarent (1964-70). Nicht zu vergessen weniger bekannte Schmuckstücke wie die sympathisch verrückte „Sternzeichen-Suite“ auf dem Luxusliner „Andrea Doria“, die Ponti 1950 zusammen mit Piero Fornasetti gestaltete.
Ein Maestro-Anti-Maestro und Mann mit Eigenschaften
Wäre das Wort nicht so abgegriffen, man müsste von einem uomo universale sprechen, so vielfältig waren seine Tätigkeitsfelder. Seine Tochter Lisa Licitra Ponti (1922 bis 2019), Dichterin und Künstlerin engagiert sich mit ihrem Vater bei „Domus“ und später bei „Stile“, nannte ihn einen „Maestro-Anti-Maestro“. Stefano Casciani spricht in seinem umfangreichen Text, der Pontis Herkunft aus dem Mailänder Bürgertum, seinen Werdegang „vom Novecento zur Moderne“, seine vielfältigen Aktivitäten und weitverzweigten Beziehungen ausführlich darstellt, nicht zufällig und mit einem Seitenblick auf die Wiener Moderne und Robert Musil, von einem „Mann mit Eigenschaften“. Und was dekorative Elemente in der Architektur angeht, ist augenzwinkernd von „Ornament und Vergnügen“ die Rede.
Tatsache ist, Ponti reagiert auf Komplexität mit gesteigerter Transparenz. Das Spielerische seiner Architektur offenbart sich darin, wie er das Verhältnis des Verborgenen zum Offenkundigen austariert. So tritt seine besondere Art der „semplicità“ nie auf, ohne die Freude am Spiel mit Formen, an der sinnlichen Qualität der Materialien, an Oberflächen und Farben. Nichts bei ihm wirkt erstarrt, alles erscheint leicht, „superleggera“ wie sein berühmter Stuhl. Pontis Moderne ist keine Revolution um jeden Preis. Ihre Methode ist kein „tabula rasa“. Seine mediterran grundierte Moderne gleicht eher einer um überflüssige Pfunde erleichterten Tradition, die bis in die Antike zurückreicht.
TASCHEN
Gio Ponti
Karl Kolbitz, Salvatore Licitra, Stefano Casciani, Lisa Licitra Ponti, Brian Kish, Fabio Marino
Hardcover, 36 x 36 cm, 5,67 kg, 572 Seiten
Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 4.000 Exemplaren
200 Euro
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