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Pionier, Lehrer, Theoretiker, Aufklärer, Tango-Tänzer: Gui Bonsiepe hat in Chile den berühmten ‚Opsroom‘ gestaltet und die Disziplin Interfacedesign maßgeblich begründet. Heute wird er 90 Jahre alt.

Von Fabian Wurm

Gui Bonsiepe in seinem Studio in La Plata, Buenos Aires, 2022 | Foto: Konrad Wachsmann

Bei seinen Vorträgen zitiert Gui Bonsiepe gern aus dem Buch „Herrn Zetts Betrachtungen“ von Hans Magnus Enzensberger. Die Hölle, heißt es dort, müsse man sich „als einen Ort vorstellen, der ganz und gar von Designern möbliert sei“. Bonsiepe fährt dann fort: Da er selbst wohl oder übel zur Zunft der Designer zähle, spreche er folglich als ein „Höllenausstatter“. Ernst sind die Scherze des ehemaligen Professors für Interfacedesign. Das Publikum aber hat er gewonnen. Und seine Klage, dass sich Design mehr und mehr von intelligenten Problemlösungen entfernt habe und heute „weitgehend gleichgesetzt werde mit teuren, exquisiten, wenig praktischen, lustigen, formal hochgekitzelten und farblich aufgeputzten Objekten“ kommt keineswegs sauertöpfisch und ohne teutonischen Furor daher.

Ungehorsam und aufklärerisch

Gui Bonsiepe, der heute 90 Jahre alt wird, ist ein unermüdlicher Aufklärer und Vordenker hypermedialer Gestaltung. Ein gefragter Redner zudem, gern gesehener Gast an amerikanischen Hochschulen und auf internationalen Kongressen. Er hat jahrzehntelang gelehrt, für Zeitschriften geschrieben und Bücher publiziert, gelegentlich auch als Gestalter praktiziert. Vor allem aber ist er als Theoretiker des Designs berühmt – in Südamerika und den angelsächsischen Ländern beinahe noch mehr als in der Bundesrepublik. Vor zwei Jahren erst ist ein beinahe 500 Seiten starker Band mit seinen gesammelten Aufsätzen im britischen Verlag Bloomsbury erschienen. Der wunderbare Titel „The Disobedience of Design“ ist beinahe ein Credo: „Der Ungehorsam der Gestaltung“. Bonsiepe spricht davon, dass Entwerfen bedeute, „sich den Paradoxien und Widersprüchen auszusetzen, sie niemals unter einer harmonisierenden Schicht zu verdecken, und es bedeutet darüber hinaus, diese Widersprüche explizit zu entfalten.“

Durch Sprache zum Design

Bei Max Bense, dem streitlustigen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker, hat Bonsiepe  ab 1955 studiert. An der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG) zählte er zu den Ersten, die in der von Bense aufgebauten Abteilung „Information“ lernten. Benses Curriculum sah das Schreiben unterschiedlicher Textsorten vor, das Formulieren von Gebrauchstexten, aber auch Stilübungen. Darüber hinaus galt es, Techniken der Debatte und freien Rede zu erproben. Die „Bildung diskursiver Kompetenz“, so hat sich Bonsiepe später erinnert, war das Ziel. Der „metaphysischen Gemütlichkeit“ der deutschen Nachkriegsgesellschaft stellte Bense den „Ungehorsam der Ideen“ entgegen, dem „Naturschönen“ das „Technikschöne“. Es galt, den Widerspruchsgeist zu schulen. Das war eine Intention, die andere war: über Design und Kunst rational zu sprechen. „Ästhetische Information“ ließe sich gar, davon war Bense überzeugt, präzise berechnen.

Anhand einer Studentenarbeit von Bonsiepe, einer abstrakten Bildkomposition, demonstrierte Bense, wie sich der Ordnungsgrad messen lasse, legte ein Raster über das Bild und wertete die Anteile von Hell- und Dunkelwerten statistisch aus. Fraglos war diese Methode mathematisch ausgetüftelt. Ob sie allerdings wirklich zur Bildanalyse taugte, darüber gingen die Meinungen der Studierenden auseinander. Bonsiepe freilich konstatierte, dass Bense „mit seinem provokanten Diktum, man müsse über Kunst so reden können wie über das Wetter – also in Form von Beobachtungs- oder Tatsachensätzen –, die geisteswissenschaftliche Tradition der Vertreter der Kunstwissenschaft brüskiert hat“. 

Gui Bonsiepe 1964
Gui Bonsiepe und Kerstin Lindberg-Bartlmae an der HfG Ulm, 1964 | © Gui Bonsiepe | HfG-Archiv/Museum Ulm.

Emphatisches Interesse an Theorie

Es war die Stunde von Informationstheorie, Kybernetik und Kalkül: An die Stelle von „Ad-hoc-Gestaltung“ sollte ein rational begründetes Design treten, so war es gedacht. Doch an objektive Ordnungen und die Formel des Mathematikers Birkhoff, die Bense zum Maß der Dinge erhob, mochte Bonsiepe nicht recht glauben. Rasch erkannte er die „Grenzen mathematischer Techniken“. Sein Interesse an Themen der visuell-verbalen Rhetorik aber war geweckt. Und so blieb er auch nach seinem Diplom an der Ulmer Hochschule, die sich, wie Bonsiepe unterstreicht, „durch ein emphatisches Interesse an Theorie“ auszeichnete. Den Ruf, die Hochburg der Methodologie zu sein, habe sich diese Schule wahrlich verdient. Erst in Ulm habe sich Design von Architektur und Kunst emanzipiert und sei zu einer eigenen „Domäne“ geworden, sagt Bonsiepe; das Wort „Disziplin“ vermeidet er.

1960 wurde Bonsiepe HfG-Dozent und zugleich Redakteur der Zeitschrift „ulm“, die bis zum Ende der Hochschule in deutscher und englischer Sprache erschien und international Beachtung fand. In dieser Publikation wurde darüber nachgedacht, was denn Semiotik, Mathematik, Physik und die Erkenntnisse der Ingenieurwissenschaften zum Verständnis und zur Entwicklung von Design beitragen können. Das Spektrum war weit gefasst. Gemeinsam mit seinem Mentor Tomás Maldonado, der seinerzeit Rektor der HfG war, schrieb Bonsiepe 1964 die Abhandlung „Wissenschaft und Design“, die als Schlüsseltext gelesen werden kann. 

Unruhe stiften, nicht Ruhe bewahren

Allein die Bandbreite der angeschnittenen Themen dieser eingehenden Ausführung verrät, wie weit hier über die Grenzen der angestammten Bereiche von Gestaltung gedacht wurde und lässt staunen: Da ist von Kybernetik und Kombinatorik die Rede, von Spieltheorie, Ergonomie, Topologie und experimenteller Psychologie. Die abschließende Sequenz freilich liest sich wie ein Manifest: „Die Funktion des Produktgestalters“, heißt es da, „sollte in Zukunft nicht in der Formgebung von Produkten bestehen, die einem schon strukturierten Bedarf entsprechen, so wie das noch in unserer Freien Marktwirtschaft üblich ist.“ Vielmehr müsse der Produktgestalter „derjenige sein, welcher zur Strukturierung des Bedarfs beiträgt; denn sonst bleibt ihm nur noch die bescheidene Rolle, mit oberflächlichen Modifikationen die schon vorhandenen Gegenstände bewahren zu helfen. Die Funktion des Produktgestalters sollte nicht darin liegen, Ruhe zu bewahren, sondern Unruhe zu stiften.“

Was die Funktion des Produktgestalters ganz konkret sein kann, das hat Bonsiepe nach Schließung der Ulmer HfG im Jahr 1968 demonstriert: Er arbeitete fortan als Design Consultant in Chile, entwickelte sparsame Möbel für günstiges Wohnen und wurde Leiter der Designabteilung des „Comité de Investigaciones Tecnológicas“ (INTEC), einer Wirtschaftsförderungsbehörde der sozialistischen Regierung des Präsidenten Salvador Allende. Eine seiner wichtigsten Design-Arbeiten jener Jahre, Teil des Projekts „Cybersyn“ aus den Jahren 1972/73, beflügelt seit geraumer Zeit – unter der verkürzenden Bezeichnung „Opsroom“ (Operations Room) – die Phantasie diverser Publikationen, darunter den New Yorker, den Spiegel und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS). 

Chiles visionäres Computernetzwerk

„Den Arbeitern sollte die Möglichkeit zur Mitsprache und Entscheidungsautonomie gegeben werden. Anders gesagt: Was da lange vor der Existenz des Silicon Valley in Chile versucht wurde, war eine Form datenbasierter Politik und direkter Demokratie“, war in der FAS vor einem halben Jahr zu lesen. Die Fakten sind ein wenig nüchterner: Es ging in erster Linie um die Lenkung der staatlichen Ökonomie. Die 400 wichtigsten Fabriken des Landes sollten ihre ökonomischen Kennzahlen via Fernschreiber an einen Kontrollraum (Opsroom) übermitteln, in dem sich sieben verantwortliche Entscheidungsträger zusammenfanden. Zu diesem Zweck hatte Bonsiepe einen Raum mit weißen, drehbaren und orange gepolsterten Fiberglas-Stühlen entworfen, in deren rechten Armlehnen zahlreiche Steuerungsknöpfe integriert waren. An den Wänden befinden sich Displays; auf großen Screens sollten Daten aus den staatlichen Betrieben zusammenlaufen. Die Wirtschaftslenker würden dann auf die laufend eintreffenden, von einem Computer (IBM 360/50) ausgewertete Daten reagieren und rasch entscheiden, wie bestimmte Wirtschaftszweige zu koordinieren seien. 

Foto des Prototyps des Opsroom mit 7 Drehsesseln, Project Cybersyn  |  © Gui Bonsiepe

Skizze des Opsroom mit Bildschirmen | Archiv Gui Bonsiepe

Skizze des Opsroom mmic 10 Drehsesseln |  Archiv Gui Bonsiepe

Gui Bonsiepe 2015
Gui Bonsiepe, La Plata, Argentinien, 2015 | Foto: Nestor Diaz

Gegen die Zeit: Bonsiepe als Held eines Romans

Auch wenn das chilenische Design-Experiment am 11. September 1973 mit dem gewaltsamen Sturz Allendes endete, blieb Bonsiepe bei seiner Sache: der Analyse von Schnittstellen beziehungsweise dem Zusammenwirken von Mensch und Maschine. Von 1987 bis 1989 arbeitete er bei einer Softwarefirma im kalifornischen Emeryville, 1993 als Professor für Interfacedesign am Fachbereich Design der TH Köln. 1996 legte er das Buch „Interface – Design neu bereifen“ vor. Das Interface mache, so definierte Bonsiepe, „aus Daten verständliche Informationen, aus bloßer Vorhandenheit – in Heideggerscher Terminologie – Zuhandenheit.“ Gerade unter den Vorzeichen der Digitalisierung nehme folglich die Bedeutung von Gestaltung zu: „In der virtuellen Realität ist alles Design – der Rest verdampft.“

Der Schriftsteller Sascha Reh hat in seinem Roman „Gegen die Zeit“ Bonsiepe ein literarisches Denkmal gesetzt. Rehs Erzählung kreist um die Geschichte des chilenischen Opsroom-Experiments; die Hauptfigur Hans Everding kann unschwer als Gui Bonsiepe identifiziert werden. Reh beschreibt den Designer als einen in erster Linie politisch agierenden und technisch denkenden Menschen, weltläufig und nobel in jedem Fall, doch durchaus auf Distanz bedacht. Über persönliche Befindlichkeiten und Obsessionen spricht er nicht öffentlich. Fiktion und Realität klaffen hier möglicherweise gar nicht weit auseinander. Bonsiepes Studierende an der Kölner International School of Design, wo er von 1993 bis 2003 lehrte, waren jedenfalls einigermaßen verblüfft, als ihr Professor in einem Seminar einmal darüber sprach, wie gerne er Tango tanzt.


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