Wie kommen wir eigentlich auf geniale Ideen? Ein Gespräch mit dem Künstler Bernhard Zünkeler, der gerade den „Atlas der Kreativität“ veröffentlicht hat.
Interview von Oliver Herwig
Entspringen Ideen plötzlichen Geistesblitzen oder – Vorsicht: Musenküssen? Oder werden sie immer wieder gewälzt, eingeschmolzen und neuaufbereitet? Klar scheint: Das Territorium der Kreativität braucht Fährtensucher und Guides, die Abkürzungen kennen und Verbindungen zwischen Dingen erkennen. Ein solcher ist Bernhard Zünkeler, promovierter Jurist und Künstler, Grenzüberschreiter und Kollaborateur. Eben hat er ein Buch geschrieben mit dem verführerischen Titel „Atlas der Kreativität“. Schon von Anfang an macht der Multidenker klar, dass Kreativität uns alle angeht: Künstler wie Betriebswirtschaftlerinnen, Designende wie Sachbearbeiter. Zünkeler geht es um das große Ganze. Im scheinbaren Widerspruch von Wachstum und Sparsamkeit sieht er die zentrale Herausforderung unserer Zeit und „den eigentlichen Beweggrund, warum wir einen Atlas der Kreativität so dringend brauchen.“ Höchste Zeit, mit dem Verfasser selbst zu sprechen.
Herr Zünkeler, was tun Sie eigentlich, wenn Sie keine Ideen haben?
Also das kenne ich überhaupt nicht. Bei mir ist tatsächlich eher das Umgekehrte der Fall, dass ich mich manchmal runterkühlen muss, um nicht zu überdrehen. Da helfen dann Natur und Familie.
Und was raten Sie bei einem Writer‘s Block, der Angst vor dem leeren Papier?
Dann man muss sich den Writer‘s Block genau angucken: Wo ist gerade eine Brücke eingebrochen oder wo ist was in irgendeiner Form nicht so, wie es normalerweise ist? Da kann man ansetzen.
Wie wichtig sind Irritationen und Brechungen für unsere Kreativität?
Für mich sind es wichtige Quellen der Inspiration. Ein schöner Kick. Wie Kontemplation, also neudeutsch: Runterkommen und der Natur nahe zu sein. Da wird man sofort kalibriert. Alle Irritation verschwindet in dem Moment, wenn man die Sterne guckt. Irritation das Gegenteil davon, wenn alle bekannten Muster durchbrochen werden. Im Grunde genommen ist das ein Weckruf der eigenen Intuition.
Und was bedeuten Diversität und Vielfalt? Für viele sind es ja so Modebegriffe, aber sie machen etwas draus.
Es sind in der Tat Modebegriffe, die aber witzigerweise immer wieder auftauchen: als der ewige Kampf von Einheit und Freiheit. Es ist tatsächlich ein großes Missverständnis. Wenn man sich das Leben anguckt, wie es auf unserem Planeten entstand, ist es eine einzige Geschichte des Anderen. Das Gesetz des Universums ist einfach Diversität. Es wird mehr. Es wird komplexer, und Leben ist geradezu das Sinnbild dafür. Man muss sich mit diesem Gesetz, dieser ewigen Diversifizierung der Natur, auseinandersetzen und gucken, wie die Natur damit umgeht. Gleichzeitig ist es natürlich unser menschliches Schicksal, Muster zu suchen. So sind wir geprägt, um überhaupt stabil sein zu können. Also dieses Thema „Standbein – Spielbein“. Diversität ist das Spielbein. Ohne Diversität geht es nicht weiter.
Sie arbeiten gern im Kollektiv. Was bedeutet das für den kreativen Funken?
Schöne Frage. Ich glaube tatsächlich, dass wir uns im Sinne des Kollektivs neu erfinden müssen. Seinerzeit schrieb ich meine Doktorarbeit über die Europäische Union, ein großes, sehr munteres und damals noch sehr positiv belegtes Kollektiv, nachher habe ich mich beruflich mit Gesellschafts- und Arbeitsrecht auseinandergesetzt und damit mit konfrontativen Kollektiven.
Und Ihr Fazit als Rechtsanwalt, Künstler und Kreativitätsdenker?
Miteinander können wir alles erreichen. Daher glaube ich tatsächlich an die positiven Seiten eines Kollektivs. Wir müssen nur schauen, wie die Natur mit Diversität umgeht. Für sie bedeutet Kollektiv immer Synergie. Wie schaffst du es, mehr zu schaffen als die Summe der Einzelbestandteile? Auch in der Industrie gibt es Chancen, Dinge zusammenzubringen, die vorher nicht zusammengebracht worden sind, das führen uns gerade die großen IT-Multis vor. Trotzdem würde ich auf meine Freiheit nie verzichten wollen – auf die Freiheit des Individuums. Das Kollektiv, das positive Kollektiv, ist wahnsinnig spannend. Selbst die EU empfinde ich als tolles Modell, egal wie viel Schwierigkeiten damit verbunden sind. Die EU ist ein Modell der Zukunft.
Sie haben Ihr Buch „Atlas“ genannt. Atlanten haben eine gewisse Konjunktur. Überall sieht man Infografiken und Titel wie „Atlas der verlorenen Welten“ … Was hat Sie bewogen, das Thema topographisch anzugehen?
Ehrlich gesagt, habe ich fünf Versionen des Buches geschrieben. Die erste war eher ein Anarcho-Buch, von Kochrezepten bis zu Songtexten, ohne jede Systematik. Danach habe ich eher etwas Philosophisches geschrieben: Wie stehen sich Empirismus, Rationalismus und Skeptizismus gegenüber? Dann kam das Bedürfnis auf, eher politisch zu argumentieren. Schließlich ging es um Systematik und dabei dachte ich an das „Periodensystem der Elemente“, wie es Dmitri Iwanowitsch Mendelejew aufstellte auf der Suche nach Elementen und wie sie miteinander wirken.
Und daraus entwickelte sich die Idee einer Landkarte der Kreativität und ihrer Bestandteile?
Ja. Wir müssen grundsätzlich etwas an unserer Denke ändern. Und dazu müssen wir eigene Instrumente aufbauen, jenseits von Mikroskop und Skalpell. Im Moment sehen wir nur die Wirkungen der Kopfarbeit. Und wissen nicht genau, was da gerade passiert. Das heißt, wir müssen noch verbal oder bildlich triggern. Daher haben wir – also die Redaktion von brand eins und ich – gesagt, wir versuchen jetzt einfach mal eine Landkarte von dem zu entwickeln, was wir sind. Und diese Landkarte ist im Prinzip eine Kurzabbildung aller Reaktionen, die das Leben auf die physikalischen Phänomene dieses Planeten ausgebildet hat. Jeder läuft anders durch seinen Atlas, jeder baut andere Häuser in diesen Metropolen. Der eine baut in der Metropole Angst nur Bunker und der nächste etwas anderes. Diese Analogie kann man am weitesten spinnen. Das sind keine Fachtermini. Wenn ich von der „Liebe zur Kunst“-Metropole rede, können sich alle darin treffen, Neurologen wie Betriebswirtschaftler. Jeder baut diese Stadt anders. Aber wir können uns zumindest gemeinsam dort treffen.
Und warum brand eins als Verlag?
Ich kannte Gabriele Fischer, habe sie immer wieder getroffen und bin auf sie zugegangen. Ich wollte zeigen, dass sich Plan und Spontanität nicht ausschließen, sondern ergänzen. Ich bat um eine Verlagsempfehlung, weil das Buch auf gar keinen Fall in der Kulturnische erscheinen sollte, wie Design, Architektur und Lifestyle. Das ist vermintes Gelände. Ich wollte zu den knallharten BWLern, zu den Rechnern oder zu Informatikern, mit denen ich immer wieder rede. Und dann sagte die Redaktion: Lass uns das gemeinsam ausprobieren.
Für wen haben Sie das Buch also geschrieben?
Natürlich zunächst für mich, weil es sonst nicht authentisch sein kann; nicht ex cathedra über den göttlichen Funken. Das Buch reflektiert den Kampf, den ich mit mir selbst ausmache, weil ich von Synergie überzeugt bin, und glaube, dass es wirklich Gewinn bringt für alle: Also Dinge zusammenzubringen und zu erkennen, dass wir gemeinsam mehr erreichen können.
Können Sie abschließend den „Pathway of Innovation“ erklären, auf dem das Neue in die Welt kommt.
Innovation ist im Prinzip ein Trampelpfad der Künstler, der sich seit alters her immer wieder aus den gleichen Elementen zusammensetzt: Du lässt dir ganz viel einfallen, um dann bei klarem Verstand mit deiner Intention wirklich das auszusuchen, was dir am besten gefällt. Das wiederholst du. Und machst es zum Teil einer Gewohnheit, so lange, bis es in Fleisch und Blut übergegangen ist. Dieses freie Spiel könnte man auch als Tanz bezeichnen, dann lädst du andere ein zur Interaktion. Aus diesem gemeinsamen Tanz erwächst in der Regel die nächste Inspiration. Das ist das Schwungrad, aus dem etwas entsteht.
Jeder Künstler geht von Inspiration zu Imagination und Improvisation, zu Intuition, zu Improvisation, dann zur Interaktion. Das ist ein Kreislauf. Die Industrie wird versuchen, diesen Kreislauf immer abzukürzen. Dort klingt Imagination, Inspiration, Improvisation nach einer Störung, man will einen klaren Geschäftsplan, um dann in die Iteration zu gehen, also in die Routinen, um tatsächlich eine Optimierung zu erreichen. Das läuft sich aber tot, weil man die intrinsischen Kräfte nicht aktiviert. Daher auch die sieben I-s, um es sich leichter merken können: Inspiration, Imagination, Intention, Inspiration, Intuition, Improvisation und Interaktion, das sind die Bausteine. Wenn die nicht alle in einem Innovationsprozess enthalten sind, hat man es schwer, echte Innovation zu erreichen.
Bernhard Zünkeler: Atlas der Kreativität.
Verlag: brand eins, 2023
ISBN: 978-3-949712-13-5
Hardcover
Umfang: 288 Seiten
Format: 214x285mm
Euro 49,80
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