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Von der Industrieruine zum Designlabor: Das Magasin Électrique, in dem das Atelier LUMA im südfranzösischen Arles seinen neuen Arbeitsort hat, ist ein Bekenntnis zu „bioregionalen Designpraktiken“. Was aus den Gegebenheiten der Region entwickelt wurde, soll sich auch in anderen Regionen adaptieren lassen und nachhaltigen Wandel anstoßen. Gleichzeitig nutzt das Team von Jan Boelen diesen Ansatz auch, um aktuelle Entwicklungen bei biobasierten Materialien zu bewerten und kritisch zu betrachten.

Von Karianne Fogelberg

Facade of Le Magasin Électrique, LUMA Arles, France. Es öffnete im Mai nach drei Jahren Umbauarbeiten unter Mitwirkung der belgischen Architekten BC architects & studies und des in London sitzenden Kollektivs Assemble seine Türen. © Adrian Deweerdt

In der südfranzösischen Region um Arles reichen die Sonnenblumenfelder bis zum Horizont. Die Gegend ist einerseits von der Salzgewinnung in der Camargue und der traditionellen Bewirtschaftung durch Schafe in der Schotterebene der Crau geprägt, andererseits von ihrer Lage im Hinterland der Industriestadt Marseille und der mondänen Urlaubsorte an der Côte d’Azur, von industriellem Strukturwandel und dem zunehmend heißen und trockenen Klima. Es sind eben solche sich überlagernden Gegebenheiten und Ressourcen, die bioregionale Designpraktiken inspirieren. Diese kamen bei der Renovierung des neuen Standortes des Atelier LUMA, dem Magasin Électrique, zur Anwendung. Dort, wo ehemals die SNCF ihre Züge gewartet hat, erstrecken sich heute auf 2000 Quadratmetern ein Forschungslabor, Produktionsorte, Ressourcencenter und ein Besucherzentrum, das bis auf weiteres eine Ausstellung zu der Renovierung und den hier erstmals in diesem Maßstab verwendeten Praktiken zeigt.

Ein neues Zuhause für Atelier LUMA

Denn das Magasin Électrique ist mehr als die jüngste Ergänzung des Kulturkomplexes LUMA Arles, Teil der in der Schweiz ansässigen LUMA Stiftung. Mit seinen neu eingezogenen Mauern aus örtlichem Bodenaushub, Akustikpaneelen aus Sonnenblumenfasern und Reisstroh, einem Terrazzo-Boden aus alten Dachziegeln, die diesen mit ihrem charakteristischen Wellenmuster rhythmisieren, mit Türbeschlägen und Schaltern aus Biokunststoffen und einem neuen Zwischengeschoss aus mit Algen und Indigo gefärbten Holzbalken dient das einstige Industriegebäude als Prototyp für die Methoden und Ansätze , die Atelier LUMA seit 2016 in einzelnen Studien und Projekten entwickelt hat.

Dass man sich am Atelier LUMA für nachwachsende Ressourcen und zirkuläre Praktiken interessiert, ist Programm. Seit Jahren forschen interdisziplinäre Teams hier zu Mikroalgen und landwirtschaftlichen Nebenerzeugnissen, dem natürlichen Prozess der Salzkristallisation oder traditionellen Flechttechniken im Hinblick auf mögliche Anwendungen in Design und Architektur. Die Arbeit der Algae Platform wurde zur Mailänder Design Woche ebenso wie am World Economic Forum in Davos gezeigt. Erste Materialinnovation wie Fliesen aus Salzkristallen sind bereits 2021 in Frank Gehrys LUMA Turm eingesetzt worden. Neu ist hingegen der Begriff der „bioregionalen Designpraktiken“. Zeit, um bei Jan Boelen, dem künstlerischen Leiter des Atelier LUMA, nachzufragen, was es damit auf sich hat.

Wall of Salt project by Atelier LUMA, Salins de Giraud, France. © Adrian Deweerdt

Gegenentwurf zum industriellen Mindset

Im Gespräch mit ndion vergleicht Jan Boelen die bioregionalen Designpraktiken mit Rezepten: „Wir sind wie eine große Küche. Die Materialien und Ergebnisse, die wir hier entwickeln, können wir in eine andere Region bringen und wie Rezepte an das anpassen, was wir jeweils vor Ort finden.“ Anstatt vermeintliche Standardlösungen per „Copy-and-Paste“ zu übertragen, sollen in Zusammenarbeit mit lokalen Stakeholdern und unter Berücksichtigung der vor Ort vorhandenen materiellen und Wissensressourcen sozial und ökologisch nachhaltige Praktiken entstehen, die die Region darin unterstützen, sich an ändernde soziale, wirtschaftliche und ökologische Bedingungen anzupassen und im Zeitalter von Klimawandel und industrieller Transformation resilienter zu werden.

Der Ansatz beruht auf der Erkenntnis, dass eine nachhaltige Entwicklung nicht darin liegen kann, „One-size-fits-all“-Lösungen für andere zu entwickeln und „Materialien und Maschinen um die Welt zu transportieren“: „Wir sind nicht daran interessiert, Atelier LUMA an anderen Orten nachzubauen“, so Boelen. „Stattdessen fokussieren wir auf lokale Produktionseinheiten von Biomaterialien, denn Materialien sind schwer und sollen vor Ort bleiben, wohingegen Ideen leicht sind und reisen sollen.“

Die aktuelle Entwicklung um biobasierte Ressourcen wie Algen und Pilzmyzel, die derzeitigen Hoffnungsträger der Materialindustrie, sieht Boelen in diesem Zusammenhang kritisch. Beide Werkstoffe werden vorrangig nach industriellen Denkweisen zu standardisierten Produkten entwickelt. Damit lassen sie sich relativ einfach in bestehende industrielle Prozesse integrieren, die strukturellen Fehler unseres Produktionssystems und unserer Konsumgewohnheiten bleiben davon aber unberührt – oder werden sogar noch bestärkt: „Die Industrie nimmt gerade drei Arten von Algen in den Blick. Wenn es so weiter geht, und jeder beginnt, Algen zu nutzen, werden wir von den aktuell über 100 000 Algenarten in Zukunft nur noch drei haben“, warnt Boelen. Ihm zufolge genügt es nicht, problematische Materialien durch solche aus nachwachsenden Ressourcen zu ersetzen, wenn gleichzeitig nicht auch der Fokus auf Monokulturen oder Wegwerfprodukte hinterfragt wird: „Wenn wir mit lebenden Materialien arbeiten, braucht es eine Strategie, sonst entwirft man nur weitere multinationale Konsummaterialien, ein weiteres ökologisches Desaster, und wir müssen sehr vorsichtig sein, dies nicht zu fördern.“

Mehrwert durch Design

Designer_innen kommt dabei aus Sicht von Atelier LUMA eine wichtige Rolle zu. Sie können vorhandene Ressourcen und Kenntnisse identifizieren und neu in Bezug zueinander setzen, und sie schaffen Netzwerke aus Fachleuten, skizzieren erste Anwendungsszenarien und stellen diese zur Diskussion. Die Erforschung von Salzkristallen in der Camargue erfolgte beispielsweise in enger Zusammenarbeit mit den Salzbauern, die Boelen als die eigentlichen Experten bezeichnet: „Sie wissen, wie Kristalle schneller oder langsamer wachsen und mehr in die eine oder andere Richtung. Der Dialog mit ihnen ist für uns unverzichtbar.“ Die Designerinnen im Team um Henna Burney haben diese Verfahren dann skaliert und in die Anwendung überführt.

Building site of Le Magasin Électrique, LUMA Arles, France.

Dass Menschen sich vorhandene Ressourcen aneignen und damit gestalten, ist im Grunde genommen nichts Neues. Gebäude aus Lehm und Hanfkalk oder das Färben mit lokalen Pflanzenfarbstoffen hat es immer gegeben. „Vieles, was wir tun, ist keine Geheimwissenschaft. Jeder könnte es für sich selbst ausprobieren, und wir veröffentlichen und teilen das Wissen darüber,“ so Boelen: „Aber was wir können, ist die Anwendungen zu professionalisieren, sie so weit zu entwickeln, dass sie für die Industrie oder für bestimmte Technologien geeignet sind und bestimmte Sicherheitsnormen oder andere Anforderungen in punkto thermischer oder akustischer Isolierung erfüllen.“

Von Arles in die Welt

Arles ist überall. Auch andere Regionen stehen vor der Aufgabe, Wirtschaft und Gemeinschaft vor Ort zu stärken, Resilienz und Eigeninitiative zu fördern und die Herausforderungen durch industriellen Wandel, Energiewende und Klimawandel aktiv zu gestalten. Die kleinmaßstäblichen, dezentralen Lösungen, die Atelier LUMA entwickelt, können nicht eins zu eins übertragen, aber adaptiert werden, um Transitionsprozesse anderenorts anzuleiten und sozial sowie ökologisch nachhaltigen Praktiken auf den Weg zu bringen. Bereits heute arbeitet Atelier LUMA mit unterschiedlichen Akteuren und Organisationen in anderen Regionen zusammen. Dazu zählt der Middle East Crafts Council Irthi, der mit seinen Projekten Frauen in ihrer wirtschaftlichen Unabhängigkeit unterstützt. Dieses Engagement will man künftig noch erweitern. Auch Kollaborationen mit Unternehmen sind in Arbeit. Man darf gespannt sein.


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