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Design als undisziplinierte Disziplin und neue Vorstellung von kooperativer Kompetenz: Ein Nachruf auf Michael Erlhoff, Designtheoretiker und von 1987 bis 1990 Geschäftsführer des Rat für Formgebung.

Von Thomas Wagner.

Portrait Prof. Dr. Michael Erlhoff
Prof. Dr. Michael Erlhoff. Foto: Nele Martens

Michael Erlhoff ist am frühen 1. Mai in Köln gestorben. Er war ein offener, überaus großzügiger und gastfreundlicher Mensch, der es verstand, andere nicht nur physisch zusammenzubringen. Er wusste sie für etwas zu begeistern, das sie (und oft uns alle) angeht, und sie im Gespräch um eine Sache zu versammeln. Das galt für Freundinnen und Freunde ebenso wie für Kolleginnen und Kollegen, für Studierende, Mitstreiter, Neugierige (jeden Geschlechts und jeder Herkunft) – und viele andere mehr. Keineswegs nur, wo es um Design ging. Michael wog seine Worte genau, spielte gern mit der Sprache, schätzte Anagramme und Palindrome, sammelte Paradoxe und pointierte Zitate. Er hatte lange genug in der Schwitters-Stadt Hannover den Merz-Geist eingesogen und nicht zufällig seine Dissertation über den Dadasophen Raoul Hausmann, den Schrecken aller deutschen Spießer, geschrieben.

Ob er redete, zuhörte, forschte, lehrte oder organisierte, Michael Erlhoff sendete positive Signale, sprühte vor Energie, war präsent, agierte konzentriert. Stockte der Gedankenfluss im gemeinsamen Gespräch doch einmal oder drohte er gar zu erlahmen, ging er im richtigen Moment rauchen oder besorgte Drinks. So kam die Sache zumeist wieder in Schwung. Manchmal, auch das gehörte dazu, wenn er mit einer seiner Ideen noch zu weit weg war von den anderen, musste er sie wieder einfangen, erklären, einige Schritte zurückgehen.

Was so im kleinen oder großen Kreis entstand, war immer ein Gespräch, aus dem man anders herausging als man hineingegangen war. Ein Austausch (keine Folge von Monologen), der die Erfahrung einer Gemeinsamkeit ermöglichte, die weiterwirkte, auch wenn sie temporär blieb. Eine Erfahrung, die, für Michael unverzichtbar, zudem eine reiche Kultur des Beisammenseins mit sehr gutem Essen und Trinken einschloss. In diesem Sinne war er ein Virtuose der Gastfreundschaft und des Gesprächs – neben all seiner Klugheit und seiner Herzenswärme, seinen anarchistischen und hedonistischen Neigungen. Manche meinten, Michael habe die Gelassenheit eines buddhistischen Mönchs ausgestrahlt. Ich denke eher an Sokrates, der, glauben wir, was geschrieben steht, auch nach einer beim Symposion durchzechten Nacht im Morgengrauen heiter und beschwingt zu nächsten Gesprächen aufbrach.

Michael Erlhoffs Interessen waren von Beginn an weit gespannt: Geboren am 27. Mai 1946 in Hildesheim, studierte und promovierte er an der Universität Hannover in Deutscher Literaturwissenschaft und Soziologie, war wissenschaftlicher Assistent, arbeitete als Regieassistent am örtlichen Staatstheater, gab zusammen mit Uta Brandes die Zeitschrift „zweitschrift“ heraus und publizierte alljährlich einen Kurt Schwitters Almanach. Da steckte er parallel schon mitten im Design. Und als Manfred Schneckenburger seine zweite documenta konzipierte, wurde Erlhoff Mitglied des Beirats der documenta 8 und richtete, überhaupt erst das zweite Mal nach der d3, inmitten der Weltkunstausstellung eine Abteilung über neues Design ein, in der u. a. Alessandro Mendini, Ettore Sottsass, Ron Arad, Jasper Morrison, Javier Mariscal, Florian Borkenhagen und die Gruppe „Pentagon“ vertreten waren.

Von 1987 bis 1990 war Michael Erlhoff Geschäftsführer des Rat für Formgebung in Frankfurt am Main. Er trug die Debatte über aktuelle Fragen des Designs in die Stadt und die Gesellschaft und machte aus dem seit 1972 in Kooperation mit dem Deutschen Industrie- und Handelstag erscheinenden Pressedienst „Design Report“ ein aktuelles Magazin in der Herausgeberschaft des Rat. 1991 wechselte er als Gründungsdekan des Fachbereichs Design nach Köln, wo er an der späteren Köln International School of Design (KISD) bis 2013 als Professor für Designgeschichte und -theorie lehrte. 2016 ernannte ihn die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig zum Honorarprofessor.

Mit welch sicherem Gespür (manchmal auch listenreich) er den atmenden Wechsel aus Konzentration und Entspannung, Plenum und Peripathetik zu steuern vermochte, zeigte sich bei ganz unterschiedlichen Anlässen, beispielsweise bei den längst legendären, von 2000 bis 2006 in St. Moritz abgehaltenen Design Summits, die er als Präsident der von ihm konzipierten Raymond Loewy Foundation gemeinsam mit Uta Brandes organisiert hat. Auch hier war der Austausch, waren die Wege, die das Gespräch nahm, wichtiger als die Verkürzung des Gesagten auf ein leicht zu kommunizierendes Ergebnis.

Designtheoretiker, akademischer Lehrer, Autor, Ausstellungsmacher – für Michael Erlhoff bedeutete Theoriearbeit immer: genau hinsehen, präzise wahrnehmen – und seine Schlüsse daraus ziehen. Das reichte weit über den akademischen Käfig hinaus. Trans- und multidisziplinär zu denken und zu handeln, war für ihn selbstverständlich, ob es galt, professionelles Design zu durchdringen oder unbewusste Gestaltungsäußerungen zu erkunden. Für diese erfand er gemeinsam mit Uta Brandes den Begriff des „non intentional design“ (NID). Er erlaubte es, sich der „alltäglichen Umgestaltung des Gestalteten“ zu nähern und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass sich erst im Gebrauch die kulturelle Vielfalt „der ansonsten meist global organisierten und verfügbaren Produktwelt“ erweist. Dazu passt, dass er lange vor all den modisch-kommerziellen Debatten über „Sharing“ dafür plädiert hat, Dinge einfach zu nutzen, statt sie besitzen zu wollen („Kaufen macht Spaß, Besitzen frustriert“). Zur Lust am Entdecken und am Darüber-Sprechen passt auch, dass er und Uta Brandes in der in Deutschland vorlesungsfreien Zeit bereits unterrichtend nach Australien, Hong Kong, Japan, China und in die USA aufbrachen, als viele hierzulande noch nicht wussten, wie das Wort „global“ akademisch buchstabiert wird.

So war denn auch die Art und Weise, wie Michael Erlhoff Designtheorie und -geschichte verstand und betrieb, immer erfüllt von Offenheit und Neugier, kulturhistorisch anspruchsvoll formuliert und intellektuell auf herausfordernd hohem Niveau. (Gern zitierte er Karl Kraus mit dem Satz „Das Niveau ist hoch, aber leider ist niemand drauf“.) Wenn es nach ihm ging, sollte Design eine „undisziplinierte Disziplin“ bleiben, zeige und realisiere sich im Design doch „eine völlig neue Vorstellung von kooperativer Kompetenz.“ Und da Spezialisten ohnehin „bloß bornierte Amateure“ seien, gehöre den Generalisten als „lebendigen Dilettanten“ die Zukunft.

Michael Erlhoff hat Design immer als geistige Aktivität verstanden. Mehr als Aufgabe, weniger als Profession. An Objekten kleben zu bleiben, die vollends zu Waren mutieren, war keine Option. Er betrachtete Design als ein reflektiertes Handeln vor einem offenen Horizont von Möglichkeiten, als kritische und sich ihrer Verantwortung bewusste Haltung zu einer längst durchindustrialisierten Konsumgesellschaft. Vor wenigen Tagen ist unter dem schönen Titel „Musils Mulis“ Michael Erlhoffs erster Roman erschienen, eine schräge Geschichte jenseits von Raum und Zeit, voller Anagramme, Palindrome („Einsame Ameisen morden modern“) und Maultieren. Michaels Energie, seine Leidenschaft, sein wacher Geist, seine Geduld und seine Herzenswärme werden uns fehlen.


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