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Agent Unicorn
Main image Agent Unicorn von Fashion-Tech-Designerin Anouk Wipprecht. Foto: Marije Dijkema

Maschinen durch Gedanken steuern – eine Vision, die Schritt für Schritt Realität wird und in den letzten Jahren deutliche Verstärkung bekommen hat. Das Brain-Computer-Interface (BCI) steht für eine neue Art der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine.

Von Nicolas Uphaus.

Ein Traum: Einfach denken, was die Maschine ausführen soll. Nachrichten schreiben, Backofen ausschalten, Freunde anrufen – alles nur durch die Kraft der Gedanken? Verkürzt erzählt, könnte die Geschichte so lauten; bei genauerer Betrachtung gestaltet sich die Umwandlung von Hirnströmen in Befehle oder Informationen jedoch deutlich komplexer. Ein großer Antrieb der Forschung waren bisher hauptsächlich medizinische und therapeutische Anwendungen. Dank Brain-Computer-Interface (BCI) können gelähmte Menschen heute besser kommunizieren, in Verbindung mit einem Exoskelett Gegenstände greifen oder sogar gehen. Auch für Schlaganfallpatienten ist es durch eine BCI-Therapie möglich, verlorengegangene Fähigkeiten zumindest teilweise wiederzuerlangen. In den vergangenen fünf Jahren haben sich allerdings ganz neue Unternehmen des Themas angenommen und wollen zukünftig eine viel größere Zielgruppe ansprechen. Das therapeutische Spektrum soll deutlich erweitert werden und die Integration in Alltagsanwendungen wie VR-Spiele ist in vollem Gange.

Automobil, ganz nah

Der Mercedesstern am Hinterkopf der Fahrerin lässt vermuten, dass hier irgendetwas anders ist. Auf der IAA Mobility im September 2021 in München präsentierte der Stuttgarter Autohersteller sein Konzeptfahrzeug VISION AVTR aus dem Jahr 2020 mit einem neuen Ausstattungsfeature – der Steuerung der Nutzeroberfläche über ein Brain-Computer-Interface. Nach einer kurzen Kalibrierung des Headsets werden die gemessenen Hirnströme in Befehle umgewandelt. Umgesetzt wurde die Studie in Kooperation mit Nextmind, einem französischen Start-up, das aus der ENS Paris ausgegründet wurde. Dessen Headset setzt auf einen Sensor am Hinterkopf, der Signale des primären visuellen Kortex erfasst. Die Anwendung ist ein Attention-Sensing-Interface, kann also anhand der Hirnaktivitäten erkennen, auf welche optischen Bereiche des Interfaces die Nutzerin oder der Nutzer sich konzentriert. Das Produkt ist marktreif, das Developer Kit ist für ca. 400 Euro erhältlich und kann auch in AR- oder VR-Headsets integriert werden.

Vision AVTR
Vision AVTR Interior

Vision AVTR. © Daimler AG. All rights reserved.

Die smarte Badekappe

Elon Musk's Neuralink
Elon Musks Neuralink. Foto: Steve Jurvetson. Veröffentlicht von Wikimedia Commons, gemeinfrei nach UrhG §64. This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.

Um Hirnströme möglichst präzise messen zu können, müssen bei einem Brain-Computer-Interface Elektroden an den richtigen Punkten platziert werden und eventuell zusätzlich durch ein aufgetragenes Gel die Signalübertragung von Kopf zu Sensor ermöglicht bzw. optimiert werden. Aufbau und Anmutung der im medizinischen Einsatz verwendeten Kappen erinnern an die Kopfbedeckungen von Wasserballern oder Babys. Die Coolness der Gedankensteuerung kann durch diese Optik schon etwas verlorengehen. Das haben auch die kommerziellen Unternehmen für den Markt außerhalb medizinischer Anwendungen erkannt – die Sensoren von Nextmind oder der mehrteilige Helm von Kernel haben sich von den bekannten Sensorkappen deutlich entfernt.

Für die Signalübertragung gilt allerdings: Je näher dran, desto besser. Deswegen erzielen Implantate die besten Resultate – sind aber nicht für alle attraktiv. Elon Musk ist überzeugt, dass sich das ändern wird und entwickelt mit seiner Firma Neuralink nicht nur die Implantate, sondern auch gleich den Operationsroboter, der die Implantierung im menschlichen Schädel vornehmen sollen. Das Implantat mit 23 mm Durchmesser und 8 mm Höhe soll in die Schädeldecke eingeklebt werden, die 1024 ultrafeinen Elektroden des Gerätes mit der Oberfläche des Gehirns vernäht werden. Das Gehirn inklusive Implantat wird somit quasi zur Hardware, auf der sich immer neue Programme installieren lassen. Neuralink verspricht vielfältige Anwendungen: Zum Beispiel Lähmungen heilen oder auch weit verbreitete Krankheiten wie Sucht oder Depressionen lindern.

Von Medical zu Mainstream

Eine Hochburg der BCI-Forschung ist Graz. Das Unternehmen g.tec medical engineering, eine Ausgründung der Technischen Universität Graz, ist als Pionier schon seit über 20 Jahren auf dem Gebiet aktiv und hat inzwischen ein Team von über 70 Personen. Wie der Name schon sagt, konzentriert sich das Grazer Unternehmen besonders auf medizinische Anwendungen. Diese reichen von neurologischem Training für Schlaganfallpatient/innen über Parkinsontherapie bis hin zu Neurorobotik. Als Ableger für breitere Nutzer/innenschichten fungiert g.tec neurotechnology; das Produkt Unicorn Hybrid Black hat weniger Sensoren als eine medizinische EEG-Kappe und richtet sich an eine experimentellere Zielgruppe – vom Softwareentwickler bis zur Medienkünstlerin. G.tec geht in diesem Bereich auch direkte Kooperationen ein, wie zum Beispiel mit der Fashion-Tech-Designerin Anouk Wipprecht. Sie entwarf ein Headset mit Einhorn, in dem eine Kamera integriert ist. Erfassen die EEG-Sensoren bei der Trägerin oder dem Träger einen Zustand hoher Konzentration, startet die Kamera mit der Videoaufnahme. Somit lässt sich nachvollziehen, welche Zustände oder Umgebungen eine hohe oder geringe Konzentration fördern. Eine Anwendung, die auch therapeutisch eingesetzt werden kann, etwa bei Kindern mit ADHS.

Agent Unicorn by Anouk Wipprecht
Agent Unicorn by Anouk Wipprecht. Photo: Christina Bakuchava
Unicorn Hybrid Black EEG Headset
Unicorn Hybrid Black EEG Headset. © g.tec medical engineering GmbH

Facebook-Betreiber Meta hingegen hat sein Engagement zu Brain-Computer-Interfaces als möglichem Eingabemedium für AR-Brillen nach vier Jahren bereits wieder eingestellt. Die dabei entwickelte BCI-Software stellt das Unternehmen als Open Source zur Verfügung. 2019 hatte Meta das Start-up CTRL-Labs für geschätzt mehrere hundert Millionen Dollar übernommen, um dessen Armband weiterzuentwickeln und mit eigenen Diensten zu verknüpfen. Dieser Weg soll nun für die Entwicklung von Mensch-Maschine-Schnittstellen weiter beschritten werden. Statt direkt mit dem Hirn zu kommunizieren, kann das Armband via Elektromyografie (EMG) die Muskelsignale am Handgelenk auslesen und interpretieren.

Kernel Flow
Kernel Flow. © 2022 Kernel ®. All Rights Reserved

BCI für alle

Bereits seit 2013 existiert die Plattform OpenBCI, die es allen Interessierten ermöglichen will, sich mit dem Thema Brain-Computer-Interface zu beschäftigen. Im Shop wird die nötige Hardware zum Selberbauen angeboten, kostenfrei verfügbar sind Software und 3D-Daten zum Selbstausdrucken, die Community zum Austausch bekommt man quasi mitgeliefert. Der Name sollte allerdings nicht die Illusion erzeugen, dass die Produkte Schnäppchen seien – die Preise für den Einstieg können auch bei OpenBCI schnell vierstellig werden. Aktuell arbeitet OpenBCI mit weiteren Unternehmen und Forschungseinrichtungen an einem Projekt namens Galea, einem AR-/VR-Headset, das von EEG bis Eyetracking verschiedenste Sensoren integriert und somit die Emotionen und Reaktionen von Trägerin oder Träger möglichst präzise erfassen soll.

Neue Gedanken

Die Zeit scheint reif zu sein: Mit der Anzahl der Unternehmen, die sich auf dem Feld der Brain-Computer-Interfaces bewegen, wachsen auch die Einsatzmöglichkeiten und das Marktpotenzial. Was für Menschen mit körperlichen Einschränkungen ein Segen und für manche sogar die einzige präzise Kommunikationsmöglichkeit mit anderen Menschen ist, verlässt nun die Nische der hauptsächlich medizinischen und therapeutischen Anwendungen. Die noch umfangreichere Selbstanalyse und zugleich die Faszination, nur mit der Kraft der Gedanken mit Maschinen interagieren zu können, wird in den kommenden Jahren voraussichtlich deutlich mehr Menschen bewegen.


Der German Innovation Award 2022

Der German Innovation Award zeichnet branchenübergreifend Produkte und Lösungen aus, die sich vor allem durch ihren Mehrwert für Nutzerinnen und Nutzer von bisherigen Lösungen abheben. Denn: Innovationen, die Zukunft gestalten und das Leben verbessern, gibt es in allen Branchen. Manchmal sieht man sie auf den ersten Blick – oftmals aber auch nicht. Das will der German Innovation Award ändern. Er macht großartige Leistungen für ein breites Publikum sichtbar und sorgt für eine erfolgreiche Positionierung am Markt.


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