7 min read

„Du musst raus aus deiner Komfortzone“ – ein Standardspruch aus Ratgeberliteratur und Managementseminaren, der für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung eine gewisse Gültigkeit haben mag. Design hat typischerweise ein anderes Ziel: Weniger die Grenzüberschreitung als die Vermittlung zwischen kulturellem Bestand und dem Neuen, Fremden, Anderen – man könnte sagen, die Erweiterung der Komfortzone. 

Von Martin Krautter

Design kann für eine kulturelle Kompatibilität neuer Technologien, Konzepte oder Denkansätze sorgen, sie les- und brauchbar machen. Und Design kann so auch zum Werkzeug werden, um Kultur mit ihrem großen Beharrungsvermögen gezielt zu beeinflussen und zu verändern: als Spielart des „Cultural Engineering“. Eine Gesellschaft mit Designkultur wäre dann eine Gesellschaft, die offen für Neues, Fremdes, Ungewohntes ist, die Gestaltung fördert, um sich weiterzuentwickeln – und bereit ist, die Kernfrage „Wie wollen wir leben?“ hierarchiefrei zu diskutieren. Es ist das Privileg der jungen Generation von Designer*innen, mit Entwürfen für ihre zukünftige Lebenswelten dabei den Ton zu setzen – diese Überzeugung spiegelt sich in Förderpreisen wie dem German Design Graduates (GDG) Award wider. 

Kultur ist ein schillernder Begriff, nicht selten auch missbraucht als identitätspolitische Waffe. In der Wissenschaft hat sich indessen der bedeutungs- und wissensorientierte Kulturbegriff durchgesetzt. Er versteht Kultur als den von Menschen erzeugten Gesamtkomplex von Vorstellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen, der sich in Symbolsystemen und Artefakten materialisiert: Eine Definition, die Design in all seinen Ausprägungen offensichtlich mit einschließt. Technische oder wissenschaftliche Innovationen kommen zwar nicht aus dem luftleeren Raum, sind aber zunächst zwangsläufig arm an kulturellen Bezügen – und häufig liegt im Herstellen dieser Bezüge auch nicht die Stärke der Erfinder*innen. Das Knüpfen und Modellieren eines solchen Bezugs- und Beziehungsnetzes ist dagegen ein zentraler Design-Skill, und sein Gelingen ganz zu Recht als Kriterium für den GDG Award „Design Culture“ definiert: „Der Produktentwurf […] verknüpft Disziplinen (Kooperationen) [und] reflektiert kulturelle Praktiken, bzw. hat das Potential, diese zu ändern“, ist in der Ausschreibung zu lesen. Wie sich das in konkreten Entwürfen ausprägen kann, lässt sich an drei von der Jury ausgewählten Entwürfen aus diesem Segment der GDG Awards betrachten. 

Globale Kultur

„E Cloud – Home“ – ein demokratischer Lösungsansatz für die private Energieversorgung, © Yujin Kang
© Yujin Kang

Der Klimawandel wie auch die akute Energiekrise sind komplexe globale Probleme, die letztlich auch auf globaler Ebene bewältigt werden müssen. Umso interessanter, dass der Siegerentwurf in der Sparte „Design Culture“ des GDG Awards 2022, der sich mit dem Thema Energie befasst, von einer Gestalterin kommt, die als Südkoreanerin in Deutschland mit zwei Kulturen, ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen vertraut ist. Als Diplomarbeit an der HfG Offenbach hat Yujin Kang mit „E Cloud – Home“ einen demokratischen Lösungsansatz für die private Energieversorgung entwickelt – und zwar sowohl auf der systemischen Seite mit der Idee einer Art „Energie-Cloud“, in der Menschen Energie, zum Beispiel aus heimischer Photovoltaik, verkaufen, austauschen oder auch spenden können, als auch auf der konkreten Ebene eines Produkts: Ein mobiler Energiespeicher, der sich durch sein Design in die Wohnumgebung fügt. „Durchdachte Produkte verändern die Welt“, erklärt Yujin Kang im Gespräch: „Durch das transkulturelle Design hätten viele Länder in Europa und Asien die Möglichkeit, E Cloud – Home einzusetzen.“ Der Design-Skill der kulturellen Verknüpfung von Innovationen aus unterschiedlichen Bereichen zeigt sich in ihrem Entwurf zum Beispiel im sichtbaren Einsatz von textilen Batterien aus Carbon-Nanoröhren – eine visionäre Technologie, die noch nicht marktreif ist, aber durch den gestalterischen Brückenschlag zum vertrauten Einsatz von Textilien im Wohnbereich kulturell zugänglich wird. 

Kultur und Natur

Dialektisch wird es bei Milan Bardo Bergheims Entwurf „peat:lab“: Denn hier geht es um den wortwörtlichen Ursprung der Kultur, die Landwirtschaft  – lateinisch „cultura“, ihre unerwünschten Folgen und den grundlegenden Antagonismus von Kultur und Natur. Konkret sind Moorlandschaften das Thema, die zugunsten der landwirtschaftlichen Nutzung entwässert werden. Ein Problem, denn daraus resultieren Oxidationsprozesse: Moore sind so für 5% des deutschen CO2 Ausstoß verantwortlich. Wiedervernässung stoppt diese Emissionen, allerdings müssten gigantische Flächen wiedervernässt werden – ein kultureller Paradigmenwechsel. Deshalb umreißt der Absolvent der Kunsthochschule Berlin Weissensee in seiner Masterarbeit das Projekt „re:wet“ als Rahmen, in dem diese Wiedervernässung landwirtschaftlicher Flächen koordiniert und evaluiert werden soll. Aus diesem wiederum systemisch-kulturell gedachten Rahmen heraus entwickelt sich überhaupt erst die klassische Produktdesign-Aufgabe: Nämlich ein dezentral einsetzbares Messgerät, das „peat:lab“, mit dem Landwirt*innen Geländehöhen, Wasserstände, Torfmächtigkeit sowie Vegetationszusammensetzung bestimmen und die Daten in ein digitales Modell einspeisen können.

peat:lab ist ein Messgerät, mit dem Landwirt*innen Geländehöhen, Wasserstände, Torfmächtigkeit sowie Vegetationszusammensetzung bestimmen und die Daten in ein digitales Modell einspeisen können, © Milan Bardo Bergheim

Diesem Kontext entsprechend trumpft das Produktdesign des Geräts nicht auf, sondern ist so selbstverständlich robust und sachlich wie ein Spaten – und nutzt mit dem Smartphone ein vorhandenes Device als Bedien- und Kommunikationsschnittstelle. peat:lab zeigt somit sehr anschaulich: Auch im gestalterischen Handeln geht es nicht nur darum, Dinge richtig zu tun, sondern auch das Richtige zu tun. Design kann in der Dialektik von Kultur und Natur helfen, eine Synthese zu finden, in der sich Gegensätze auflösen und die Bewahrung der Natur zur Kulturtechnik wird.

Reparatur-Kultur

Pelle ist so gestaltet, dass es von Kindern selbst zusammengebaut, angepasst und bei Bedarf auch modifiziert werden kann, © Lars Herzog

Vom britischen Science-Fiction-Autoren und Physiker Arthur C. Clarke stammt der Ausspruch „Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.“ Die fortschreitende Miniaturisierung zum Beispiel der Elektronik bis hin zu ihrem Quasi-Verschwinden wurde vom Design als Freiheitsgewinn begrüßt. Doch sie hat auch Schattenseiten, denn der vollständige Rückfall der Konsumgesellschaften in magisches Denken wäre ein bedrohliches Szenario. Zugleich lässt sich eine subkulturelle Gegenbewegung aus Hackern und Makern beobachten, die auf der Herrschaft des Menschen über die Technik bestehen und die sich etwa in der wachsenden Zahl von Maker Spaces oder Repair-Cafés manifestiert. Inzwischen fordert das Europaparlament Richtlinien für reparaturfreundliche Produkte: ein handfester kultureller Wandel. In dieses Bild fügt sich ein weiterer Entwurf aus dem GDG Award 2022, das Kinderfahrrad „Pelle“ für, so sein Designer Lars Herzog, „kleine Mechaniker*innen“.

Es kommt in Teilen und mit Werkzeug zu seinen drei bis fünf Jahre alten Kund*innen und ist konsequent so gestaltet, dass es von ihnen selbst zusammengebaut, angepasst und bei Bedarf auch modifiziert werden kann, etwa vom Laufrad zum richtigen Fahrrad mit Pedalen und Antrieb. Man darf hoffen, dass Kinder, die mit „Pelle“ Bewegungsfreiheit und Selbstwirksamkeit unmittelbar erfahren haben, sich später auch abstrakte, digitale Räume souveräner erobern, unterstützt etwa von Lernspielzeug wie den Lego Robotik-Baukästen. Extensive immersive Cyberwelten wie Minecraft oder das aktuell diskutierte Metaverse sind Teil der Lebensrealität junger Menschen – Design bietet die Chance, kulturelle Brücken über die Kluft zwischen Entwickler*innen und Anwender*innen zu schlagen, damit auch digitale Welten für alle zur erweiterten Komfortzone werden.


German Design Graduates
Die genannten Designerinnen und Designer sind Teil der diesjährigen German Design Graduates. GDG ist eine Initiative mit dem Zweck der Nachwuchsförderung von Produktdesignabsolventinnen und -absolventen sowie der Präsentation von staatlich anerkannten Universitäten, Kunsthochschulen und Fachhochschulen. 2019 von Prof. Ineke Hans, Prof. Hermann Weizenegger, Prof. Mark Braun und Katrin Krupka initiiert, hat seit 2022 der Rat für Formgebung die Projektträgerschaft. Die Leistungen und Lösungen von Absolventinnen und Absolventen in ihrer Qualität und Vielfältigkeit auszuzeichnen, zu präsentieren und zu fördern ist der wichtigste Baustein der GDG Initiative.
Am 2. Oktober 2022 wurden die Awards in den Bereichen Circular Design, Social Design, Design Research und Design Culture verliehen, worunter E Cloud – Home von Yujin Kang mit dem Design Culture Award ausgezeichnet wurde. Die German Design Graduates Show 2022 im Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit dem Schwerpunkt „Perspectives for Graduates in Product Design“ widmet sich unter dem Einfluss der gravierenden Veränderungen und Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Umwelt den zentralen Themen unserer Zeit und zeigt die interessantesten Ideen und Lösungsansätze von 40 jungen Designerinnen und Designern aus über 20 deutschen Hochschulen des Produktdesigns. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober in Dresden zu sehen.


Mehr auf ndion

Weitere Artikel zum Thema Design.

Mehr zu den German Design Graduates


Diese Seite auf Social Media teilen: