9 min read

Die Aufgaben von Design werden immer vielschichtiger. Damit eröffnen sich auch neue Wirkungsfelder für die Designforschung. Im Folgenden stellen wir drei aktuelle Projekte von Designstudierenden vor, die zeigen, wie sich Theorie und Praxis wirksam in den Entwurfsprozess integrieren und aus dieser Synergie wertschöpfende Anwendungen generieren lassen.

Von Karianne Fogelberg                                                                                    

Designforschung gilt inzwischen als fester Bestandteil der Disziplin und hat sich an deutschen Hochschulen auch in der Lehre etabliert. Gleichzeitig wird sie weiterhin sehr unterschiedlich gedeutet und gehandhabt. Diese Vielfalt ist aber auch ihre Stärke. Die Designtheoretikerin Uta Brandes spricht von „einer produktiven Uneindeutigkeit“. Demnach könne Designforschung gerade aufgrund ihrer Unschärfe Innovationen hervorbringen. 

Die folgenden Projekte zeigen beispielhaft, wie heute mit Designforschung an deutschen Hochschulen gearbeitet wird und wie der Transfer von Designforschung in die Praxis gelingen kann. 

Ein ringförmiger Griff für schmerzfreies Operieren 

qio für schmerzfreies Operieren © Cosima Pauli

Mit ihrem Entwurf qio hat Cosima Pauli Instrumente, die in der minimalinvasiven Chirurgie zur Anwendung kommen, so optimiert, dass Chirurginnen und Chirurgen mit ihnen unabhängig von der Größe und Beschaffenheit ihrer Hände erstmals ebenso präzise wie schmerzfrei arbeiten können. Laparoskopische Instrumente werden für minimalinvasive Eingriffe in der Bauchhöhle genutzt. Der alternative Entwurf, den Pauli in ihrem Bachelorstudium an der Hochschule für Technik und Wissenschaft Berlin in Kooperation mit dem Bundeswehrkrankenhaus Berlin entwickelt hat, ermöglicht angenehme Griff- und Handpositionen während der Operation. Bei herkömmlichen laparoskopischen Instrumenten ist der scherenähnliche Griff nicht an individuelle Handgrößen angepasst, was bei Operateurinnen und Operateure zu chronischen Schmerzen und Schäden wie etwa Bandscheibenvorfällen oder Knochenverformungen führt.  Diese unerwünschten Nebenwirkungen sind bereits in Studien dokumentiert worden, ohne dass eine Lösung entwickelt worden wäre. „Mich hat überrascht“, sagt Pauli, „dass dieser ergonomische Missstand im operativen Arbeitsumfeld präsent, bewusst und von Anwenderinnen und Anwendern sogar fast schon akzeptiert ist.“ 

qio für schmerzfreies Operieren © Cosima Pauli

Begleitet von einem Viszeralchirurg, der mit seiner Operationserfahrung als Designpate agierte, entwarf Pauli einen ringförmigen Griff, der von kleineren wie größeren Händen gleichermaßen gut gegriffen werden kann. Der oben positionierte Drehstern, über den das jeweilige Instrument ausgerichtet wird, lässt sich aus unterschiedlichen Richtungen und Abständen bequem und sicher betätigen, wodurch Operateurinnen und Operateure ihre Handgelenke nicht mehr unangenehm abwinkeln müssen. Griffflächen aus Silikon und eine rotierbar angebrachte Kabelführung verbessern die Operationstätigkeit zusätzlich. Die Reduktion auf die zunächst nicht naheliegende, formalästhetisch einfache Ringform führte hier zu einem überzeugenden Lösungsansatz: „Oft sind es reduzierte Formen, die das breiteste ergonomische Spektrum aufweisen“, konstatiert Pauli. Dieses sei insbesondere dann gewährleistet, „wenn Nutzerinnen und Nutzer teilweise individuell entscheiden können, wie und wo sie am besten greifen.“ 

Die benötigten fachfremden Kenntnisse hat sich Pauli über Fachliteratur und eine systematische Analyse und Evaluierung von Produktgruppen angeeignet. Sie hat bei Operationen hospitiert, Interviews mit Arbeitenden aus dem OP-Umfeld geführt und an einem chirurgischen Laparoskopie-Training teilgenommen. Darüber hinaus hat sie die Kenntnisse von Kommilitonen aus anderen Fakultäten, in diesem Fall der Fertigungstechnik und dem Ingenieurswesen, einbezogen, um die Machbarkeit ihres Konzepts zu überprüfen. Mit qio zeigt Pauli, welchen Beitrag Designforschung zum Operationsalltag leisten kann, wenn bei der Entwicklung medizintechnischer Produkte nicht nur Wohl und Sicherheit des Patienten im Fokus stehen, sondern ebenso die Frage, inwieweit sie den Chirurginnen und Chirurgen eine ergonomische Handhabung ermöglichen. Sie ist bereits im Gespräch mit einem Medizintechnikhersteller, der sich für eine Realisierung des Entwurfs interessiert.  

Intuitives Programmieren von Robotern mit Augmented Reality 

Designforschung German Design Graduates
Das AR Interface in der Ausstellung der German Design Graduates, Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, © Carolin Horn

Auch Carolin Horn hat ein Projekt entwickelt, das anschlussfähig an die Praxis ist. In Zusammenarbeit mit dem Robotik-Startup Wandelbots hat sie in ihrer Bachelorarbeit an der TU Dresden ein neuartiges Augmented Reality (AR)-Interface entwickelt, mit dem das Programmieren von Robotern in Zukunft weniger Zeitaufwand und Expertise erfordern könnte. AR eröffnet mit der Steuerung durch Handgesten und durch die Überlagerung der Realität mit virtuellen Simulationen neue Möglichkeiten, mit Robotern zu interagieren. Als Werkstudentin bei Wandelbots war Horn auf diese Potentiale aufmerksam geworden und hat sich die Aufgabe gestellt, ein AR-Interface für die Robotik zu entwickeln und im Sinne einer positiven Nutzererfahrung zu gestalten. Durch intuitivere und leichter zugängliche Schnittstellen können damit auch Menschen ohne Vorkenntnisse Roboterpfade sicher und schnell erstellen.


© Carolin Horn

Dazu führte sie Interviews mit Roboterprogrammierinnen und -programmierern und skizzierte mögliche Einsatzszenarien, um mit diesen Erkenntnissen einen Interface-Prototypen für die Microsoft HoloLens 2 AR-Brille zu entwickeln, den sie abschließend in Usertests im Hinblick auf funktionale Eignung und Produktakzeptanz prüfte. In dem Prozess führte sie Kenntnisse aus Produktionstechnik und Automatisierung, Interfacegestaltung und Produktdesign sowie der Softwareentwicklung zusammen. Vor allem konnte Horn als Designerin den technischen Fokus auf die Automatisierung durch eine dezidierte Nutzerorientierung ergänzen. Dafür hat sie u.a. Methoden verwendet, mit denen sich „Produktnutzung und -erleben nicht nur auf funktionaler Ebene, sondern auch hinsichtlich von Bedürfnissen und Emotionen“ analysieren lassen. Gerade deren Berücksichtigung ist bei der Anwendung von neuartigen Technologien wichtig, um Berührungsängste zu vermeiden.

Designforschung Prozess
Skizzierter Arbeitsprozess des Projekts, © Carolin Horn
Designforschung
AR Applikation, © Carolin Horn

Ihren Prototypen zeigt Wandelbots inzwischen auf Messen: „Als Demonstrator hat die Applikation ein enormes Potential, Möglichkeitsräume aufzuspannen und zu zeigen, wie Prozesse in der Produktion einfacher und sicherer gestaltet werden können“, sagt Horn. Sie arbeitet heute bei dem Unternehmen in einem Inkubator für Produktinnovationen, wo sie in einem interdisziplinären Team zu konkreten Fragestellungen im Themenfeld Robotik, Software und Produktion forscht – eine Arbeit, auf die sie ihr Studium ihr zufolge gut vorbereitet habe.

Eine passgenaue personalisierte Schutzweste für die On-Demand-Produktion

Mit Air Craft hat Johannes Schmidtner in seiner Bachelorarbeit an der OTH Regensburg untersucht, wie Fertigungsprozesse mit Hilfe digitaler Fabrikation und parametrischem Design anwendungsoffener und effizienter gestaltet werden können. Am Beispiel einer Schutzweste, wie sie u.a. beim Reitsport getragen wird, zeigt er, wie solche Protektoren in Zukunft für die eigenen Körpermaße personalisiert und in On-Demand-Produktion gefertigt werden könnten. Die Weste besteht aus zwei ultraschallverschweißten Membranen aus Nylonstoff und lässt sich über eingebaute Ventile aufpumpen. Die Technik druckstabilisierter Membranstrukturen ermöglicht stoßsichere Strukturen, die leicht und mobil sind, und sich damit ideal für Protektoren eignet. Weitere Anwendungen für die Weste sind in der Pflege denkbar, wo sie Demenzpatienten vor Sturzverletzungen schützen könnte. 

Designforschung Air Craft
Die Schutzweste eignet sich im Sportbereich, ist aber auch in der Pflege anwendbar, © Johannes Schmidtner
Designforschung
Die Weste kann für die eigenen Körpermaße personalisiert und in einer On-Demand-Produktion gefertigt werden, © Johannes Schmidtner

Die Weste ist eine exemplarische Anwendung, anhand dessen Schmidtner den von ihm entwickelten Gestaltungsprozess und die gewählte Fertigungsmethode überprüft hat. Im nächsten Schritt hat er eine User-Interface-Seite entworfen, die eine einfache und verständliche Bedienung des Systems ermöglicht. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag jedoch auf der technischen Entwicklung, die er in einem selbst eingerichteten Labor auf dem Dachboden seines Elternhauses durchgeführt hat, nachdem die Hochschule Corona-bedingt im SoSe 2021 nicht zugänglich war. Unterstützt hat ihn in seinem Vorhaben die Telsonic GmbH, ein Hersteller von Ultraschallschweißgeräten. Sie hat ihn zu den Potentialen des Verfahrens für die Herstellung von aufblasbaren Produkten (Inflatables) beraten und ihm ein Ultraschallschweißgerät ausgeliehen, das er mit einer selbst gebauten CNC-Maschine kombinierte. 

Die vielfältigen Potentiale, die sein Forschungsthema eröffnet hat, erforscht er aktuell in seinem Masterstudium an der Weißensee Kunsthochschule Berlin weiter. Ihm zufolge werden Designerinnen und Designer „zukünftig immer weniger mit konkreten Produkten befasst sein, sondern vermehrt Systeme und Prozesse entwerfen“, und darunter auch solche, „die von Nutzerinnen und Nutzer mitgestaltet und verwendet werden können“. 

Air Craft von Johannes Schmidtner auf Vimeo

Diese drei Beispiele zeigen, wie zukunftsfähige Konstellationen zwischen Designforschung, Entwicklung und Industrie entstehen können. Der Anteil der Hochschulen daran könnte noch größer sein. Schmidtner zufolge ist die Offenheit für Forschung an der Hochschule zwar groß, aber es gibt „wenig konkrete Unterstützung, was die technische Anwendung und Verortung im industriellen Kontext angeht“. Hier wünscht er sich „frühen Kontakt zu Expert/-innen und Wissenschaftler/-innen aus verschiedenen Bereichen in der Designausbildung, um eine interdisziplinäre Arbeitsweise zu fördern“. Für Cosima Pauli, die sich auf der Suche nach Interviewpartner/-innen und Hospitationsmöglichkeiten viel Zeit nehmen und mit vielen Absagen umgehen musste, „wäre eine Vermittlungsstelle eine große Hilfe gewesen, die Expert/-innen und Designer/-innen aus unterschiedlichen Disziplinen für Forschungszwecke verbindet.“ Und Carolin Horn könnte sich „eine frühzeitige Einbettung von rechtlichen Fragen in die Designlehre“ vorstellen, die speziell auf die Bedürfnisse von Designforschenden ausgerichtet sind.


German Design Graduates
Die genannten Designerinnen und Designer sind Teil der diesjährigen German Design Graduates. GDG ist eine Initiative mit dem Zweck der Nachwuchsförderung von Produktdesignabsolventinnen und -absolventen sowie der Präsentation von staatlich anerkannten Universitäten, Kunsthochschulen und Fachhochschulen. 2019 von Prof. Ineke Hans, Prof. Hermann Weizenegger, Prof. Mark Braun und Katrin Krupka initiiert, hat seit 2022 der Rat für Formgebung die Projektträgerschaft. Die Leistungen und Lösungen von Absolventinnen und Absolventen in ihrer Qualität und Vielfältigkeit auszuzeichnen, zu präsentieren und zu fördern ist der wichtigste Baustein der GDG Initiative.
Am 2. Oktober 2022 wurden die Awards in den Bereichen Circular Design, Social Design, Design Research und Design Culture verliehen, worunter das Augmented Reality Interface von Carolin Horn mit dem Design Research Award ausgezeichnet wurde. Die German Design Graduates Show 2022 im Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden mit dem Schwerpunkt „Perspectives for Graduates in Product Design“ widmet sich unter dem Einfluss der gravierenden Veränderungen und Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Umwelt den zentralen Themen unserer Zeit und zeigt die interessantesten Ideen und Lösungsansätze von 40 jungen Designerinnen und Designern aus über 20 deutschen Hochschulen des Produktdesigns. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober in Dresden zu sehen.


Mehr auf ndion

Weitere Artikel zum Thema Design.

Mehr zu den German Design Graduates


Diese Seite auf Social Media teilen:

Print Friendly, PDF & Email