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Mehr als ein Dutzend neuer Museumsbauten rund um die Welt hat er in den letzten drei Jahrzehnten entworfen. Seine wichtigsten Beiträge zur Architektur der Gegenwart sind aber gerade die Projekte, bei denen er bestehende Gebäude saniert und weitergebaut hat. An seinem 70. Geburtstag steht David Chipperfield auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Architekt.

Von Fabian Peters

David Chipperfield, Foto: Benjamin McMahon

Am 18. Dezember dieses Jahres vollendet David Chipperfield sein 70. Lebensjahr. Ein herausragendes Jahr für ihn – fraglos. Am 24. Mai wurde ihm auf der antiken Agora in Athen der meistbeachtete Architekturpreis der Welt, der Pritzker-Preis, verliehen. Die Wahl des Ortes für die Preisverleihung stellt gleich mehrere Bezüge zu Chipperfields Werk her: Sie verweist auf die Klassizität seiner Arbeit, die die Jury in ihrer Begründung ausdrücklich hervorhebt. Sie erinnert zudem daran, dass David Chipperfield Architects (DCA) gerade die Ehre zuteilgeworden ist, in den kommenden Jahren das Archäologische Nationalmuseum in Athen umzubauen und zu erweitern. Die Ortswahl ist aber auch deshalb außerordentlich passend, weil sich einige der wichtigsten Arbeiten Chipperfields mit historischen Baustrukturen auseinandersetzten. Unter den großen Architekten unserer Zeit nimmt David Chipperfield nicht zuletzt deswegen eine Sonderstellung ein, weil er eine seltene Meisterschaft im „Weiterbauen“ entwickelt hat. Er muss in dieser Disziplin inzwischen in einem Atemzug mit dem großen venezianischen Architekten Carlo Scarpa (1906 bis 1978) genannt werden. Anders allerdings als Scarpa, dessen Interventionen immer auf den ersten Blick als moderne Zutat sichtbar sein sollten, haben Chipperfield und sein Team im Laufe der Jahre eine Reihe von unterschiedlichen Ansätzen entwickelt, mit dem Bestand umzugehen.

Neues Museum Berlin, Treppenhalle, © SMB / David Chipperfield Architects, Foto: Ute Zscharnt

Er weiß Bestehendes zu konservieren und behutsam zu ergänzen

Chipperfields Wiederherstellung des Neuen Museums auf der Berliner Museumsinsel steht dabei Scarpas Auffassung vielleicht am nächsten. Der spätklassizistische Bau von Friedrich August Stüler war im Zweiten Weltkrieg annähernd zur Hälfte zerstört worden, ein Wiederaufbau in der DDR unterblieben. Chipperfield restaurierte die erhaltene Substanz sorgfältig und ergänzte den fehlenden Flügel als Backsteinrohbau. Im Innern schuf er ein monumentales Treppenhaus aus Beton als freie Interpretation des zerstörten Vorgängers. Chipperfields Konzept setzt beinahe idealtypisch die Vorgaben der Charta von Venedig um. Die 1964 verabschiedete Charta, einer der Grundpfeiler der modernen Denkmalpflege, fordert, dass das Vorgefundene bestmöglich konserviert wird, Ergänzungen dagegen erkennbar „den Stempel unserer Zeit“ tragen müssen.

Dieses Verständnis von Restaurierung, das Carlo Scarpa lehrbuchartig praktizierte, wurde allerdings in den letzten Jahren insbesondere in der deutschen Niederlassung von DCA in Berlin weiterentwickelt. Geradezu einen Gegenentwurf zum Neuen Museum stellt Chipperfields Generalsanierung der Neuen Nationalgalerie dar, errichtet 1962 bis 1968 durch Ludwig Mies van der Rohe. Hier tritt das Büro vollständig in den Dienst des Ursprungsarchitekten. Kaum ein Detail verrät den nachträglichen Eingriff. Dort, wo in den Ausstellungsräumen Anpassungen unumgänglich waren, etwa um Barrierefreiheit zu ermöglichen, passen sich DCA mimetisch der Formensprache Mies’ an. Nur in einigen neu geschaffenen Nebenräumen lassen sie eine (sehr zurückhaltende) eigene Handschrift erkennen.

Neue Nationalgalerie Berlin nach der Renovierung, Blick von der Potsdamer Straße, © Simon Menges
Treppenhalle © SPK / David Chipperfield Architects, Foto: Jörg von Bruchhausen

Neu und Alt verschmelzen zu einem eigenständigen Raumkunstwerk

Weiter noch als bei der Neuen Nationalgalerie lassen Chipperfield und sein Berliner Büro die Charta von Athen bei den „Jacoby Studios“ in Paderborn hinter sich. Hier integrierten sie den Firmensitz eines mittelständischen Unternehmens in die erhaltenen baulichen Fragmente eines Kapuzinerklosters aus dem 17. Jahrhundert. Das Kloster war im zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört und beim Wiederaufbau in der Nachkriegszeit zu einem Krankenhauskomplex umgestaltet worden. Die Architekten ließen die Ergänzungen des 20. Jahrhunderts abtragen und legten die barocken Mauern wieder frei. Sie ergänzten behutsam Fehlstellen in den alten Bruchstein- und Ziegelwänden und fügten neue Elemente in Sichtbeton hinzu. Dabei verschmolzen sie Neubau und Bestand zu einem eigenständigen Raumkunstwerk, bei dem nicht mehr die Ablesbarkeit der historischen Strukturen, sondern ein neues Architekturerleben im Mittelpunkt steht. So wurde eine zeitgenössische Ruinenästhetik entwickelt, die man trotz einer gewissen Sprödigkeit fast als romantisch ansprechen muss. Dieses Wiederaufleben von Ideen des Pittoresken verbindet die Jacoby Studios übrigens mit der James-Simon-Galerie, die Chipperfield zur selben Zeit inmitten des hochsensiblen Umfelds der Museumsinsel errichtet hat.

Jacoby Studios, Paderborn, 2014 – 2020, Innenhof mit Kreuzgang, © Simon Menges

Zwischen diesen Extremen verorten sich zahlreiche weitere Restaurierungsprojekte, die David Chipperfiels Architects in den vergangenen Jahren realisiert haben. Zu nennen wäre beispielsweise das Projekt „Morland Mixité Capitale“, den Umbau eines 16-stöckigen Bürohochhauses aus den 1960er Jahren, das zuvor Sitz der Pariser Präfektur war. DCA Berlin erhielten den Bestandsbau und passten ihn für ein zukünftiges gemischtes Nutzungsprogramm an. Dabei schufen sie neuen öffentlichen Raum in den beiden Attikageschossen, die nun Gastronomie beherbergen. In Zusammenarbeit mit dem Büro „Studio Other Spaces“ des Künstlers Ólafur Eliasson und des Architekten Sebastian Behmann wurde in die Attikageschosse zudem eine Lichtinstallation integriert. Sie reflektiert bei Tag den Himmel und schafft bei Nacht einen neuen visuellen Bezugspunkt am Ufer der Seine.

Die „Rooftop Bar“ des Projekts Morland Mixité Capitale, Paris, Kunstinstallation, © Simon Menges

Blicke auf San Marco und den Campanile

Auch beim Umbau der „Procuratie Vecchie“ am Markusplatz in Venedig entwickelten DCA einen öffentlich zugänglichen Ort – ein neues Erlebnismuseum, das im Dachgeschoss der Renaissancebauten an der Nordseite des Platzes untergebracht ist. Chipperfield und sein Team aus der Mailänder Niederlassung legten unter den Dachstühlen sehr zurückhaltend gestaltete Raumfolgen an und versteckten zwischen den Satteldächern eine neue Terrasse mit Blick auf San Marco und den Campanile. In Berlin wird derzeit die Bötzow-Brauerei aus dem 19. Jahrhundert durch drei Neubauten ergänzt, während die denkmalgerechte Sanierung des historistischen Bestandes bereits vor einigen Jahren abgeschlossen wurde. Obwohl die zukünftige Nutzung hauptsächlich aus Forschungseinrichtungen bestehen wird, legten die Architektinnen und Architekten von DCA großen Wert darauf, die Spuren der industriellen Vergangenheit und die über eineinhalb Jahrhunderte entstandene Patina zu konservieren. Die Innenräume wirken dadurch für Chipperfields Verhältnisse ungewohnt roh.

Rendering des Projekts für das Nationale Archäologische Museum in Athen, Räume rund um den zentralen Innenhof, © Filippo Bolognese Images

Umbauten sind keine Architektur zweiter Klasse

Als im März 2023 bekannt gegeben wurde, dass David Chipperfield den diesjährigen Pritzker-Preis zugesprochen erhält, bezeichnete dies die weite Mehrzahl der Kommentatoren als hochverdiente Anerkennung für einen herausragenden Architekten unserer Zeit. Allerdings wurde gleichzeitig – zumeist im Netz – Kritik geäußert, dass die Jury zu alten Gewohnheiten zurückgekehrt sei. Wieder einmal werde ein alter weißer Mann (oder sagen wir eher: ein alter Mann aus dem globalen Norden) am Ende seiner Karriere ausgezeichnet – ein „Stararchitekt“, wie viele vorangegangene Preisträger. Die Akzentverschiebung bei der Auswahl der Laureaten, die etwa mit der Ehrung von Francis Kéré 2022 und Lacaton Vassal 2021 spürbar geworden sei, werde wieder zurückgenommen. Diese Kritik ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Denn gleichzeitig mit den oben angeführten Projekten entstehen in Chipperfields Büros in London, Berlin, Schanghai, Mailand und Santiago de Compostela zahlreiche kommerzielle Neubauten. Sein Name hilft, Architektur zu verkaufen – sei es am Immobilienmarkt, in der Politik oder in der Öffentlichkeit. David Chipperfield ist eine weltweit erfolgreiche Marke. Gerade aber diese Prominenz ermöglicht es Chipperfield, Einfluss zu nehmen – auf die Vorlieben von Investoren, auf die Wertschätzung der Öffentlichkeit und nicht zuletzt auf das Berufsbild und die Selbstwahrnehmung von Architektinnen und Architekten. Letztere müssen sich damit anfreunden, dass das Neubauen zukünftig nur noch einen kleinen Teil ihrer Tätigkeit ausmachen wird, während der Erhalt und die Pflege des Baubestandes aus Gründen der Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stehen muß. Die Bauwende im Zeichen des Klimawandels macht dies unerlässlich. Umso wichtiger ist es, dass Umbauten keine Architektur zweiter Klasse mehr darstellen. Der weltweit meistbeachtete Architekturpreis für David Chipperfield ist nicht zuletzt ein Ausdruck dieses Verständniswandels.

Chipperfields Beistelltisch „Lengley“ für e15, © e15
Koffer fürs Handgepäck von David Chipperfield und Tsatsas, © Tsatsas

Tische, Bänke, Koffer – Chipperfield als Designer

Neben der Würdigung der Verdienste als Architekt soll an dieser Stelle nicht vergessen werden zu erwähnen, dass David Chipperfield, der 2022 im Rahmen des German Design Award vom Rat für Formgebung als „Personality of the Year“ ausgezeichnet wurde, auch immer wieder als Designer tätig ist. Für den schwedischen Leuchtenhersteller Wästberg hat er beispielsweise die Serie w102 entworfen, die in ihrer reduzierten und sinnfälligen Formensprache eine von Chipperfields gelungensten Objektentwürfen ist. Für den Frankfurter Möbelhersteller e15 hat er in den letzten Jahren eine ganze Reihe von fast klösterlich anmutenden Tischen und Sitzmöbeln geschaffen, von denen einige in Zusammenhang mit Architekturprojekten entstanden sind. Besonders schön ist die Bank aus Stahl und Leder, die Chipperfield und sein Team für die Räume der James-Simon-Galerie gezeichnet haben. Sogar ein Koffer stammt aus Chipperfields Feder. Da er, der permanent auf Reisen ist, kein Gepäckstück nach seinen Vorstellungen fand, entwickelte er es kurzerhand gemeinsam mit dem Frankfurter Taschenhersteller Tsatsas – quasi ein Geschenk an sich selbst, von dem nun auch andere profitieren können. Vielleicht macht sich David Chipperfield ja zu seinem 70. Geburtstag wieder ein solches Geschenk. Wir möchten es ihm – und uns – herzlich wünschen.

David Chipperfield für e15: Massivholztisch „Fayland“ mit Bänken „Fawley“, © e15



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