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Für das Buch „HerStories“ hat sich Gerda Breuer mit der Geschichte von Grafikdesignerinnen von 1880 bis heute befasst. Im Gespräch erläutert die Historikerin, wie wichtig Gestalterinnen für die Frauenbewegung waren, weshalb die Erzählung in Deutschland hinterherhinkt und was Designerinnen heute tun können, um besser sichtbar zu werden.

Interview von Martina Metzner

(v. l.) Designerin Katja Lis von DBF, Historikerin Gerda Breuer und Doris Kleilein vom Jovis Verlag bei der Buchpräsentation von „Her Stories“ © Wanda Spangenberg

Die Designgeschichte ist voll von männlichen Stars. Was noch immer fehlt, ist ein umfassender Blick auf den Beitrag von Designerinnen. Gerda Breuer hat sich in ihrer Zeit als Professorin für Designgeschichte immer wieder mit der Sichtbarkeit von Frauen im Design beschäftigt. Nun hat sie ein umfangreiches Buch verfasst, das die männlich geprägte und auf singuläre Persönlichkeiten fokussierte „His-tory“ um „HerStories“ erweitert und Grafikdesignerinnen im Kollektiv in den Blick nimmt. Gestaltet wurde das Buch von Katja Lis, die in gleicher Weise wie die Autorin auf dem Cover erwähnt wird.

Liebe Gerda Breuer, was hat Sie dazu bewogen, „HerStories in Graphic Design“ über Grafikdesignerinnen von 1880 bis heute zu schreiben? Was fehlt, um die Designgeschichte zu vervollständigen?

Zum einen sind es persönliche Gründe. Zum anderen geht es darum, Designgeschichte neu zu schreiben. In meiner Zeit als Professorin für Designgeschichte an der Universität Wuppertal waren meine Studierenden im Kommunikationsdesign zu 80 Prozent Frauen. Aber gelehrt wurde nur die Geschichte der Männer. Wo sind die Designerinnen geblieben? Aus dieser Frage entstand das erste Buch „Women in Graphic Design – 1890 – 2012 -, das ich mit Julia Meer herausgegeben habe und das zeigt, dass es gute Designerinnen gab, die den Männern ebenbürtig waren. Und dann habe ich mich gefragt: Haben die Frauen eigentlich für ihre Interessen gekämpft? Haben sie protestiert? Man kann für die freie Wirtschaft arbeiten, aber man kann auch eine produktive, emanzipatorische Kraft entwickeln. Das ist das Thema meines neuen Buches „HerStories“.

„HerStories – Dialoge, Kontinuitäten, Selbstermächtigungen Grafikdesignerinnen 1880 bis heute“ von Gerda Breuer, gestaltet von Katja Lis. Bild: dbf.design

Wie kann Designgeschichte neu geschrieben werden?

Der Blick auf die Geschichte ist immer in Bewegung. Die Rezeptionsgeschichte hat viel dazu beigetragen, dass Designerinnen unsichtbar geblieben sind. Zu ihrer Zeit waren sie durchaus beteiligt und akzeptiert. Man sah ihre Beiträge auf der Weltausstellung 1893 in den USA, auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik 1914 in Leipzig oder auf der Werkbundausstellung 1914 in Köln. Viele Designerinnen haben mit eigenen Agenturen professionell gearbeitet. Doch um die Designgeschichte neu zu schreiben, braucht es noch viel Forschung und Mittel. So bin ich Mitglied des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojektes „UN/SEEN“, das Petra Eisele und Isabel Naegele initiiert haben, um zur Sichtbarkeit von Grafikdesignerinnen in der Geschichte und Gegenwart beizutragen. Wichtig dabei ist, den Kanon von gutem Design aufzubrechen. Das hat beispielsweise Sheila Levrant de Bretteville in den 1970er Jahren getan. Sie hat auf einem Plakat geschrieben, wenn Design gesellschaftlich relevant sein soll, dann sind „Taste and Style not enough“.

Was bedeutet das für Grafikdesignerinnen von heute?

Dass Designerinnen ausgeklammert werden, geht nicht mehr. Sie sprechen momentan von einer vierten Welle der Frauenbewegung. Junge Designerinnen brauchen Vorbilder aus der Geschichte. Katja Lis, die das Buch „HerStories“ gestaltet hat und sich im Deutschen Designer Club für Frauen im Design einsetzt, ist ein gutes Beispiel für diese neue Bewegung. Aber wie das bei Wellen so üblich ist, besteht auch die Gefahr, dass sie wieder abebben.

See Red Women’s Workshop, Fight the Cuts, Plakat/Poster 1975 © See Red Women’s Workshop
Plakat aus Israel mit dem Motiv von Käthe Kollwitz „Nie wieder Krieg“, vermutlich 1980er Jahre, Bild: Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung

Im Buch blicken Sie stark auf Designerinnen, die visuelle Gestaltung politisch begreifen – Grafikdesign als Mittel der Emanzipation und damit Teil der Frauenbewegung. Der Fokus liegt dabei vor allem auf den USA und England. Weshalb?

Es gab viele Facetten, weshalb sich Frauen für ihre Anliegen eingesetzt haben. Selbstermächtigung ist ein ganz großer Punkt. Sie haben Netzwerke und Kollektive gebildet, sich gegenseitig unterstützt. Das ist bis heute so. In den USA sind durch den Sezessionskrieg die Männer weggefallen und die Frauen mussten sich selbst um ihr Einkommen kümmern. Sie gründeten Zeichenschulen, schufen Institutionen, über die sie ihre Werke verkaufen konnten. Ein gutes Beispiel für diesen Pioniergeist und Pragmatismus ist Candace Wheeler, die sich Ende des 19. Jahrhunderts als Interior- und Textil-Designerin etablieren konnte. In England gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bewegung der Suffragetten, die sich für das politische Wahlrecht der Frauen einsetzte. Sie hatten mit dem „Suffrage Atelier“ eine Art eigene Werbeagentur, die ihre politischen Schriften, Plakate, Banner und sogar Kleidung gestaltete und produzierte. Darauf ist man in England bis heute noch stolz.

Auch Russland brachte sehr früh kraftvolle Grafikdesignerinnen hervor, vor allem nach der Russischen Revolution, die bürgerliche Institutionen wie Familie und Ehe auflöste. In Deutschland sind die Werke von Frauen in der angewandten Kunst in den Archiven unterrepräsentiert. Darauf spielt auch das Plakat der „Guerilla Girls“ an, die im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe für ihre Ausstellung „The F* word“ im Sommer 2023 herausfanden, dass nur 1,5 Prozent der dort archivierten Werke von Frauen stammen. Aber das Interesse hierzulande entwickelt sich gerade.

Die Guerilla Girls demonstrieren, dass die Werke von Frauen im Archiv des MK&G Hamburg extrem unterrepräsentiert sind: nur 1,5 % von 400 000. Bild: Guerrilla Girls, courtesy guerrillagirls.com

Am Anfang waren es natürlich die Töchter höherer Schichten. Wann änderte sich dies?

Es stimmt, dass anfänglich Frauen, die als Illustratorinnen oder Kunstgewerblerinnen arbeiten wollten, zunächst an kostenpflichtigen Privatschulen ausgebildet wurden – etwa an den Damenakademien in München oder beim Lette Verein in Berlin. Ein Studium an öffentlichen Kunst-Hochschulen war Frauen lange verwehrt, auch weil das Aktzeichnen für Frauen als unsittlich galt. Ab 1919 wurden die Kunstakademien in Deutschland auch für Frauen geöffnet. Aber es spielten weitere multiple Hindernisse mit: von der Finanzhoheit des Ehemannes über das Verbot für Frauen, Vereine zu gründen, bis zur Verweigerung ihres Stimmrechts bei Wahlen.

Braucht es nicht auch die Erzählung von singulären Persönlichkeiten?

Es gibt seit langem die Kritik, dass die Designgeschichte sich zu sehr auf Persönlichkeiten fokussiert, obwohl es ein kollektiver Prozess war. Es gibt viele großartige Designerinnen, die inzwischen Beachtung gefunden haben. Aber das ist nicht mein Fokus in „HerStories“. Sondern: Wie sahen die Rahmenbedingungen aus, um sich zu entwickeln? Zu welchen Formen und Formaten haben Frauen gegriffen, um sich gegen die Restriktionen zu wehren? Wichtig für die Neuschreibung der Designgeschichte ist, dass wir Frauen sowohl als Persönlichkeiten als auch als Kollektive unter Beachtung des jeweiligen historischen Kontextes integrieren.

Foto, Ereignisse von Suffragetten „Plakatparade, 20. Juni 1908“. Zur Gruppe gehören Miss Mabel Capper, zweite von links, und Miss Mary Gawthorpe, vierte von links.

Von singulären Persönlichkeiten war schon die Rede. Sie schreiben Sheila Levrant de Bretteville und Martha Scotford eine besondere Rolle bei der Emanzipation von Grafikdesignerinnen zu. Weshalb?

Sheila Levrant de Bretteville war nicht nur Designerin, sondern auch Feministin und typisch für die 1970er Jahre. Sie bezog Frauen in ihre Anliegen mit ein, zum Beispiel gründete sie 1973 mit Arlene Raven das „Women’s Building“ in Los Angeles. Das löste eine enorme Diskussion bei der Gründung des neuen „California Institute of the Arts“ in Los Angeles aus, dessen Programm sie mitbestimmte. Designer wie Paul Rand und Armin Hoffmann verließen daraufhin die „Yale School of Art“, an der de Bretteville seit 1990 Direktorin für Grafikdesign war. Heute ist sie vielen jungen Grafikdesignerinnen ein Vorbild, etwa für die Magazine „Girls Like Us“ und „Missy Magazine“. Martha Scotford ist eine Kunst- und Designhistorikerin aus den USA, die 1994 beschrieb, dass die Designgeschichte nicht nur eine von Männern dominierte „Neat History“ mit einem linearen Narrativ sein sollte, sondern eine „Messy History“ mit vielen verstreuten individuellen Beiträgen. Auch das ist ein großes Vorbild.

Neben den politisch motivierten Designerinnen gab und gibt es natürlich auch solche, die rein kommerziell gearbeitet haben …

Das habe ich weniger thematisiert. Dennoch wollte ich zeigen, dass Frauen auch unglaublich erfolgreich sein konnten. Die Art Direktorinnen der Zeitschriften „Harper’s Bazaar“ oder „Vogue“ waren seit den 1910er Jahren sehr gute Grafikdesignerinnen und haben sich stark für das Bild der modernen, berufstätigen Frau eingesetzt. Sie knüpften ein ganzes Netzwerk von Frauen, zogen etwa Fotografinnen, Autorinnen und berühmte Persönlichkeiten dazu – Jacky Kennedy oder Susan Sontag gehörten etwa zu ihren Zirkeln.

Lora Lamm, Kleinplakat/Werbeinserat der Firma Pirelli, um 1959 © Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung
Luba Lukova, Fun in the Sun, Plakat, 2008, Bild: Luba Lukova

Wir kommen zur Gegenwart: Was sind die Anliegen der Frauen und Grafikdesignerinnen damals und heute?

Da gibt es eine Vielfalt von Ansätzen. Ein Unterschied ist, dass sich Frauen heute von dem binären Code Mann-Frau und den Machtstrukturen zwischen Mann und Frau lösen und sich für verschiedene sexuelle Identitäten öffnen. Man blickt dabei auch auf die von den westlichen weißen Gesellschaft ausgegrenzten Ethnien, also die BIPOC-Szene (Abkürzung für Black People, Indigenous People and People of Colour, Anm. d. Red.). Eine enorme Rolle dabei spielt das Internet: Hier können sich Frauen und Designerinnen sichtbar machen, sich artikulieren und vernetzen.

Im Moment dreht sich in Kunst und Design viel um „White Supremacy“ und „Decolonizing Design“. Was können Grafikdesignerinnen dazu beitragen?

Ich beobachte vor allem Designerinnen, die aus dem arabischen Raum stammen, die aber im Westen studiert haben. Ein Beispiel ist etwa die in Berlin lebende Grafikdesignerin und Aktivistin Golnar Katrahmani, die aus dem Iran stammt. Sie setzt sich für die arabische Schrift und ihre Rezeption ein, gibt Workshops, beteiligt sich an Ausstellungen, hält Vorträge. Eine andere Vertreterin ist Dana Abdullah aus Kuwait, die die Plattform „Decolonizing Design“ mitbegründet hat. Wenn ich mich mit ihnen beschäftige, frage ich mich, ob unsere Netzwerke nicht immer noch sehr westlich und weiß sind.

Was können Grafikdesignerinnen heute tun, um sichtbarer zu werden? Was können sie aus der Geschichte lernen?

Sie tun ja schon unglaublich viel: Sie artikulieren sich und lassen sich schulen, wie sie sich sichtbar machen können. Und dann ist da immer das Zauberwort „Netzwerk“. Das gab es schon in den 1970er und 1980er Jahren. Ich habe immer beides gemacht. Das Netzwerk erspart einem nicht die eigene Arbeit und die eigene Leistung. Die Unsichtbarkeit der Frauen in der Designgeschichte hat auch damit zu tun, dass sie wenig geschrieben, wenig diskutiert, wenig programmatisch gearbeitet haben – sie waren zwar einflussreich, aber oft im Hintergrund. Die Designerin Ellen Lupton spricht bei den vielen Professorinnen von „underground matriarchy“. Frauen müssen sich öffentlich in Diskurse begeben – über Empowerment, über Queerness, was auch immer. Das würde ich Frauen und Designerinnen heute empfehlen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Her Stories © dbf.design

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