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Seit diesem Sommer steht „VERD°“ in Frankfurt am Main: Als Prototyp einer seriellen, baumartigen Struktur, die in den von zunehmender Hitze geplagten Städten für Abkühlung sorgen soll. Der Versuch, Städte mit einer neuen, grünen Architektur klimaresilienter zu machen – und Anlass zu fragen, was es für eine „Green City“ wirklich braucht.

Von Martina Metzner

VERD°, Foto: Ingmar Kurth

Weltweit haben es sich Städte wie Singapur, Paris oder Frankfurt am Main unter dem Leitmotiv „Green City“ zur Aufgabe gemacht, ihre Flächen stärker zu begrünen, um den durch den Klimawandel steigenden Sommertemperaturen entgegenzuwirken. Denn in den Städten steigt die Hitze durch den wärmespeichernden Effekt von Asphalt und Beton noch einmal mehr als andernorts. Vermehrt entstehen Hitzeinseln, die selbst nachts nicht mehr abkühlen. Prognosen zeigen, dass es in einigen Metropolen im Jahr 2100 bis zu acht Grad Celsius wärmer sein könnte als heute. Stadtgrün soll aber auch gegen andere Wetterextreme wie Starkregen oder Stürme helfen. Dabei haben Stadtplanende vor allem das Prinzip der Schwammstadt vor Augen, bei der Flächen Wasser speichern und bei Bedarf wieder abgeben, wie dies Kopenhagen bereits vor Jahren umgesetzt hat. Urban Green ist aber nicht nur ein wichtiger Faktor zur Klimaanpassung: Grün hilft gegen Lärm- und Feinstaubbelastung, erhöht die Biodiversität und trägt nicht zuletzt zur Entspannung gestresster Stadtmenschen bei.

Bäume als effektivstes Stadtgrün

Es gibt viele Möglichkeiten, Städte zu begrünen. Die effektivste ist, Bäume zu pflanzen: Sie spenden Schatten sowie Feuchtigkeit und sorgen dadurch für Abkühlung. Diese natürliche Klimaanlage kann die Temperatur in nächster Umgebung um gefühlte ein bis acht Grad Celsius senken. Außerdem kann ein ausgewachsener Stadtbaum im Jahr 12,5 Kilogramm CO2 verarbeiten sowie 4.600 Kilogramm Sauerstoff produzieren – und trägt damit zum Erreichen der Klimaziele bei. Allerdings: Gerade in den Innenstädten ist der Platz für Bäume knapp, denn sie konkurrieren mit Gebäuden und Straßen und benötigen zudem jede Menge Wurzelraum – idealerweise rund 36 Kubikmeter.

Alternative für dichten Untergrund

Daher wird händeringend nach Alternativen gesucht. Eine davon steht seit diesem Sommer im Hinterhof des Forschungsinstituts und Naturmuseums Senckenberg in Frankfurt am Main. 10 Meter ragen zwei Anlagen aus Holz und Stahlbeton in die Höhe, an deren Flachsseilen sich einheimische und nicht-heimische Kletter- und Schlingpflanzen wie die Glockenrebe, Prunkwinde, Hopfen oder Kapuzinerkresse der Sonne entgegen recken. Die beiden „Designbäume“ namens „VERD°“ sind erste Prototypen, das Forschungsinstitut Senckenberg und der Deutschen Wetterdienst sammeln kontinuierlich Daten und untersuchen so die Wirksamkeit der Anlage. Hinter dem Projekt steht geballte Gestaltungspower: Das Office for Micro Climate Cultivation, kurz OMC°C, wurde von Nicola Stattmann und Carlotta Ludig 2020 als Start-up gegründet. Die beiden Frankfurter Designerinnen holten sich zusätzlich den Designer Stefan Diez, den Architekten Malte Just von Just Architekten sowie das Ingenieurbüro Bollinger + Grohmann und den Gärtner Dieter Gaißmayer an Bord. Gemeinsam betreten sie ein Feld, das klassischerweise von Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten sowie Garten- und Landschaftsbau-Unternehmen bespielt wird. Das Team will die kreislauffähige „VERD°“-Anlage dort aufstellen, wo es wenig Platz für Bäume und vor allem ihre Wurzeln gibt: also auf Flächen mit einer hohen Dichte an unterirdischer Infrastruktur wie Kanäle, Leitungen oder Tiefgaragen. Durch die erhöhten Pflanztröge aus 3D-gedrucktem, rezykliertem Kunststoff kann man unter der Konstruktion hindurchgehen. Die Bewässerung erfolgt automatisch, ein Wasser- und Elektroanschluss ist Voraussetzung. Am Ende der Saison erntet das Team die einjährigen Pflanzen ab, um die Biomasse weiterzuverwenden, etwa für Aktivkohle. Im Winter blieben die Stelen leer – darauf, wie sie in dieser Zeit genutzt werden können, hat das Team noch keine Antwort gefunden und runzelt schon mal die Stirn bei der Frage, wie es denn mit Weihnachtsbeleuchtung ausschaue. Die Wartung sei sehr spezifisch und werde daher von OMC°C übernommen, so Ludig und Stattmann. Mit einigen Kommunen stehe man bereits in Kontakt.

VERD°, Foto: Ingmar Kurth

OMC°C sind nicht die Einzigen, die solche freistehenden, vertikalen Rankhilfen für den urbanen Raum anbieten. Seit 2016 hat etwa der Anbieter Helix aus Kornwestheim ein „Mobiles Grünes Zimmer“ auf dem Markt, das er gemeinsam mit dem Office for Landscape and Architecture (OLA) aus Stuttgart entwickelt hat und das als Mietobjekt in 25 deutschen Städten unterwegs ist. Der Vorteil: Das Pflanzenzimmer ist autark, dank eines großen Wassertanks sowie einer Solaranlage, die den Strom für die Wasserpumpe liefert. Fest installiert sind hingegen die freistehenden Rankhilfen, die Jakob Rope Systems aus der Schweiz anbietet. So kommt die Pergola am Einstein-Platz im Schweizerischen Aarau der „VERD°“-Anlage sehr nahe, was Konstruktion und Höhe angeht: Auch hier müssen die Stahlträger in einem runden Betonfundament verankert werden, um die Windlasten auszugleichen. Im Vergleich zur Frankfurter Anlage sind hier die Kletterpflanzen allerdings bodengebunden – was die Bewässerung einfacher und nachhaltiger macht, da hier Regen- anstelle von Trinkwasser und keine Elektrizität gebraucht wird.

Vorreiter Bosco Verticale in Mailand

„VERD°“ steht damit in einer Reihe neuer vertikaler Stadtbegrünungskonzepte, die dort ansetzen, wo der Platz für Bäume knapp ist. Vor allem sind es neuartige Fassaden- und Dachbegrünungen, die Gebäude wirken lassen, als wären sie seit Jahren der Natur überlassen worden und die an die legendären hängenden Gärten der Semiramis in Babylon erinnern. Den Beginn dieser Bewegung markierte Patrick Blanc von Paris ausgehend mit seinen dichten und üppigen Pflanzenteppichen an Häuserwänden, was aber vor allem als Add-on funktionierte. Mit dem 2014 eröffneten Hochhaus-Komplex „Bosco Verticale“ (dt. für „vertikaler Wald“) in Mailand änderte sich dies schlagartig. Hier rückten der Architekt Stefano Boeri und die Landschaftsplanerin Laura Gatti Pflanzen ins Zentrum der Architektur: Auf den Balkonen der beiden 80 und 110 Meter hohen Türme gedeihen 800 ausgewachsene Gehölze und 20.000 weitere Pflanzen. Mittlerweile sind weltweit mehr als zehn weitere „vertikale Wälder“ realisiert beziehungsweise in Planung. 

Feiert Bäume auf Häusern: „1000 Trees“ von dem Londoner Architekten Thomas Heatherwick in Shanghai. Bild: Qingyan Zhu

Auch Deutschland wird von dieser neuen Welle grüner Architektur erfasst: Den 2021 fertiggestellten, emblematischen Kö-Bogen II in Düsseldorf mit seinen 30.000 Hainbuchenhecken rund um das gesamte Gebäude hat Christoph Ingenhoven entworfen, der auch die Fassade der Calwer Passage in Stuttgart begrünt hat. Neben Stefano Boeri, Thomas Heatherwick und Edouard Françoise gehört der Düsseldorfer Architekt zu den international gefragtesten Baumeistern grüner Gebäude. Neu sind diese Konzepte aber nicht wirklich. So hat der Architekt Ot Hoffman in Darmstadt 1968 ein Haus entworfen, dessen Bäume und Sträucher sich noch heute prächtig über die Balkongeländer wiegen. Hoffmanns Baumhaus war nur ein Beispiel für den gestalterischen Ausdruck der damals neuen Umweltbewegung, die in Terrassenhäuser voller Büsche mündeten – oder in künstlerischen Interventionen wie die Verpflanzung von 15 „Baummietern“ in Wohnungen von Friedensreich Hundertwasser zur Mailänder Triennale 1973.

30.000 Hainbuchenhecken wurden als Hülle um den Kö-Bogen II in Düsseldorf durch das Team von Architekt Christoph Ingenhoven angebracht. Bild: Ingenhoven Architects/ HG Esch

Kritik an grüner Architektur

Doch die neue grüne Architektur bleibt nicht frei von Kritik. So etwa das Projekt, den alten Flakbunker im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg zu einem begehbaren Park umzufunktionieren. Die zusätzliche Stahlbetonkonstruktion der Aufstockung würde so viel CO2 verbrauchen wie die dort installierten Bäume erst in hunderten Jahren amortisieren könnten, so Stadtplanende und Fachleute vom BUND. Der „Bosco Verticale“ gerät ebenso ins Visier: Als „Edelforst für Besserverdienende“ bezeichnet (brand eins) und mit einer jüngst analysierten ziemlich schlechten Ökobilanz. Auch der Architekturkritiker Oliver Wainwright vom The Guardian wird nicht müde, grüne Projekte wie „Tree of Trees“ von Thomas Heatherwick oder „Marble Arch Mound“ von MVRDV, beide in London, als „Green Washing“ zu deklassifizieren.

Was ist dran an dieser Kritik? Ferdinand Ludwig, Gründer des Büros OLA (Office for Living Architecture) und Professor für Green Technologies in Landscape Architecture an der TU München, sieht die Diskussion differenziert. „Man muss den Beitrag von Begrünungsmaßnahmen zum Klimaschutz einerseits und zur Klimaanpassung andererseits auseinanderhalten“, so der promovierte Architekt. Nicht bodengebundene Fassadenbegrünungen hinterließen immer einen negativen CO2-Fußabdruck, vor allem, wenn dafür zusätzliche technische Anlagen gebaut oder die Bauwerkskonstruktion verstärkt werden müssten. Und bei der Klimaanpassung würden Einzelmaßnahmen kaum etwas bewirken. Auch das von Ludwig selbst konzipierte „Mobile Grüne Zimmer“ mit einer vertikalen Grünfläche von 12,5 Quadratmetern ändere kaum etwas am lokalen Mikroklima und schon gar nichts am Stadtklima, erklärt der Wissenschaftler, denn die kleine, mobile grüne Einheit spende nur wenig Schatten, was die „wichtigste Kühlleistung von Bäumen“ darstelle, und kaum kühlende Feuchtigkeit. „Aber es ist ein symbolisches und mittlerweile erfolgreiches Mittel, um mit den Menschen in den Dialog zu treten.“ Und welche psychologischen Effekte es habe – Stichwort „gefühlte Temperatur“, könne man kaum messen. „Letztlich hilft nur ein umfassender Umbau, um die Stadt klimaresilienter zu machen“, so Ludwig. Eine Studie der Technischen Universität München aus dem Jahr 2022 zeigt, dass der Grünraumanteil in Städten mindestens bei 40 Prozent liegen müsse, um die Hitze in den Städten deutlich zu verringern. Derzeit liegt er in europäischen Metropolen bei durchschnittlich 15 Prozent.

Entsiegelung als Zauberwort

Was hilft also wirklich gegen die zunehmende Hitze und drohende Unwetter in den Städten? Entsiegelung von Flächen scheint hier das Zauberwort sein. Ein Dilemma für Städte, die zugleich kräftig nachverdichten wollen, um mehr Wohnraum zu schaffen. Ein Hebel könnte in der Mobilitäts-Infrastruktur liegen. Würden Innenstädte autofrei, könnten sich Asphaltstreifen in blühende Landschaften verwandeln. Dafür setzt sich beispielsweise die Initiative „Wanderbaumallee“ seit einigen Jahren in vielen Städten ein, in dem sie Parkplätze mit fahrbaren Bäumen bespielt.

Das „Mobile Grüne Zimmer“ von OLA – Office for Living Architecture für Helix Pflanzen ist autark und in 25 deutschen Städten in Einsatz. Bild: Helix Pflanzen

Förderung von Fassaden- und Dachbegrünungen

Neben dem städtischem Grund rücken zunehmend private Flächen und Gebäude in den Fokus der „Green City“-Bewegung. Viele Kommunen haben bereits Programme aufgelegt haben, um private Fassaden- und Dachbegrünungen finanziell zu fördern. In Frankfurt am Main etwa beteiligt sich das Umweltamt mit bis zu 50 Prozent der Kosten und maximal 50.000 Euro an solchen Projekten. Eine weitere Möglichkeit sind strengere gesetzliche Vorgaben wie das Verbot von Schottergärten oder verbindliche Vorgaben zur Begrünung von Neubauten und im Bestand – auch hier ist Frankfurt am Main Vorreiter. Das alles müsse in einer größeren Strategie zusammen mit der grauen und blauen Infrastruktur geplant und umgesetzt werden, so Ferdinand Ludwig – und verweist dabei etwa auf den Wert und das Management von Regen- und Abwasser anstelle von Trinkwasser für die Bewässerung. In diesem komplexen Unterfangen fungieren einzelne Maßnahmen wie das „Mobile Grüne Zimmer“, „VERD°“ oder die Waldhochhäuser als Botschafter und Imageträger – und nähren vor allem die Sehnsucht und Hoffnung nach mehr Grün in der Stadt.

Nicola Stattman von OMC°C, dem Designbüro hinter VERD°, live begegnen – und vielen weiteren interessanten Protagonist*innen aus Branding und Design: Diese Gelegenheit bietet der GDC Summit 2023 am 9. November, 9.00 – 18.00 Uhr im Porsche Museum Stuttgart! 

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