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Erhellendes Infodesign im Geiste des Isotype: Mit „Joy and Fear“ legt Theo Deutinger einen bildstatistisch illustrierten Bericht über die Gegenwart vor, mit dem er Otto Neuraths legendäres Buch „Modern Man in the Making“ fortschreiben möchte.

Rezension von Thomas Wagner

© Lars Müller Publisher

„Statistik“, so Otto Neurath, „ist Freude für die Erfolgreichen“. Mit Stolz erzähle der Bürger der USA von den höchsten Wolkenkratzern, den schnellsten Flugzeugen und davon, dass sein Land mehr an Petroleum, Kohle und Automobilen produziere als alle anderen Länder zusammengenommen. Zahlen, so der 1882 in Wien geborene und 1945 im englischen Exil verstorbene Nationalökonom, Philosoph und Volksbildner, „werden zu Fahnen des Sieges“. Statistik sei aber auch für jeden denkenden Arbeiter „ein wesentlicher Bestandteil der sozialistischen Ordnung“, weshalb man wissen müsse, „wie bestimmte Mengen an Arbeitskräften, Maschinen, Rohstoffen anzuwenden sind, damit eine bestimmte Menge an Wohnung, Nahrung, Kleidung, Bildung, Vergnügungen, Krankenpflege usw. gesichert ist, deren Verteilung nach bestimmten Grundsätzen erfolgt“.

Emanzipation durch aufbereitete Daten

Wie können, sollen Statistiken kein Herrschaftswissen sein, Bürgerinnen und Bürger informiert, wie die sozialen und ökonomischen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft vermittelt werden? Wie lassen sich empirische Daten so aufbereiten, dass sie aufklärend wirken und zur Diskussion anregen? Um eine demokratische Öffentlichkeit über die Probleme der Zeit und die Gründe ihres Entstehens zu informieren, wurde 1925 unter Neuraths Leitung in Wien das „Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“ gegründet. Gemeinsam mit seinem Team entwickelte er die sogenannte „Wiener Methode der Bildstatistik“, die später in „Isotype“ (International System of Typographic Picture Education) umbenannt wurde. Mittels übersichtlicher, weil bildhaft aufbereiteter Informationen sollten mündige Bürger herangebildet werden: Eine kleine, wie mit der Schere ausgeschnittene Figur mit geschultertem Gewehr repräsentierte 100.000 Soldaten; die Entwicklung der Kohle- und Erdölproduktion wurde mittels Reihen von Briketts und Ölfässern nachvollziehbar.

Work, Leisure, Sleep
© Lars Müller Publisher

Modern Man in the Making

Nach „Gesellschaft und Wirtschaft“, dem 1930 herausgegebenen „bildstatistischen Elementarwerk“, markiert „Modern Man in the Making“ von 1939 den Höhepunkt einer Volksbildung per Sozialstatistik. Das Buch geht auf einen großzügigen Auftrag des Verlags Alfred A. Knopf zurück, der Neurath als Autor große Freiheiten ließ. Seine wichtigste Mitarbeiterin (und spätere Ehefrau) Marie Reidemeister überzeugte ihn davon, neue Wege zu gehen: Statt Infografiken aneinanderzureihen, kombinierte Neurath Text und Schaubild, wobei die Bildstatistiken gleichsam mitgelesen werden müssen, um der Argumentation folgen zu können. Reidemeister bereitete dazu die statistischen Daten grafisch auf und stimmte sie, damit die Einheit gewahrt blieb, mit Neurath und Gerd Arntz ab. Damit nahm sie die Rolle heutiger Informationsdesigner vorweg. Verhandelt wurden Themen, die auch heute noch relevant sind – von der Globalisierung über Krieg und Wirtschaft bis zur Migration. In Neuraths Ansatz steckt die enorme Dynamik der Moderne: Der „moderne Mensch“ ist ständig „in the Making“; er verändert sich nicht nur, ist nicht nur im Werden begriffen, er wird auch „gemacht“, von äußeren Faktoren und Einflüssen bestimmt. Eine Sichtweise, die Neurath entsprach, der nicht nur als Nationalökonom eine materialistische Perspektive einnahm.

Neuraths Klassiker fortschreiben

Mit „Joy and Fear“ will Theo Deutinger nicht weniger als Neuraths „Modern Man in the Making“ fortschreiben. Deutinger, Jahrgang 1971, ist Architekt, Schriftsteller und Kurator sowie Gründer und Leiter von „The Department“, einem Büro, das Architektur mit Forschung, Visualisierung und künstlerischem Denken verbindet. Bekannt wurde er durch seine Schriften über die Transformation der europäischen Stadtkultur und soziokulturelle Studien wie das „Handbuch der Tyrannei“. In „Joy and Fear“ geht Deutinger nun der Frage nach, wie der Mensch durch Versprechen und Fehlschläge in der Entwicklung der modernen Gesellschaft immer wieder neu und anders geformt wird. Das Buch enthält Texte, Illustrationen und Piktogramme zu so unterschiedlichen Themen wie der Eisenproduktion, dem Manhattan-Projekt, zu Konsumismus, Plastikzeitalter, Krieg, Migration, Freizeit, Älterwerden und vielem mehr.

Zu Beginn berichtet Deutinger, er sei vor etwa 20 Jahren in seinem Lieblingsantiquariat auf die niederländische Version von Neuraths Buch gestoßen und habe sofort „eine starke Verbindung“ gespürt: „Was mich an dem Buch faszinierte, war der Versuch, die Entstehung der Moderne zu beschreiben – eine längst vergangene Zeit, wie ich dachte. Da ich in den 90er und 00er Jahren aufgewachsen bin, hatte man mir eingeredet, wir lebten in postmodernen Zeiten. Irgendwie hatte ich die Vorsilbe ,post‘ immer sehr wörtlich genommen – als eine Zeit nach der Moderne.“

Vieles hat sich verändert

Da sich die Welt seit 1939 in vielerlei Hinsicht verändert hat (1945 fiel auf Hiroshima die erste Atombombe), bestand Deutingers Idee zunächst schlicht darin, Neuraths Buch zu nehmen und seine Bildstatistiken bis heute zu erweitern. „Aber sobald ich in die Welt des Isotype eintrat, wurde ich von Autos, Pferden und Schiffen mitgerissen, von Zahnrädern fast erdrückt und von Figuren heimgesucht. Ich habe mich zu sehr in Otto Neuraths Denken verstrickt, einem Intellektuellen des Industriezeitalters. Um seine Geschichte fortzusetzen, musste ich mich von dem Mann lösen und mich mehr an die Methode des Isotype halten.“ Am Ende, so Deutinger, sei ein Dialog herausgekommen, „zwischen uns, den Menschen von heute, und Neurath, dem Mann aus der Vergangenheit“.

Entstanden ist eine anregende Mischung aus Themen, deren Entwicklung sich bis in die Gegenwart fortgesetzt hat, anderen, die sich seit den 1930er Jahren verändert haben, und ganz neuen Dingen. Kernenergie, das Internet und der Aufstieg Chinas, so Deutinger, erforderten „neue Erzählungen, neue Illustrationen und ein neues Isotype“. Dabei wurden die Piktogramme des historischen Isotype so wenig wie möglich verändert, neue im Stil der Originale entworfen. Auch dem Dilemma wurde begegnet, dass in Neuraths Werk zeitbedingt alle Figuren, die die Menschheit repräsentieren, Männer sind (oder, wenn sie eine Frau darstellen, ein Kleid tragen), die amerikanischen Ureinwohner rot gedruckt sind, und Asiaten kegelförmige Hüte aus Reisstroh tragen: Das Piktogramm für den Menschen wurde androgyner gestaltet, damit sich alle Geschlechter repräsentiert fühlen. Auch habe man sich bemüht, sexistische, rassistische und andere ausschließende Vorurteile in den Illustrationen zu beseitigen.

© Lars Müller Publisher

Lassen sich Entwicklungen objektivieren?

Vor allem die Bildstatistiken verblüffen ein ums andere Mal, besonders, wenn sie unmittelbar vor Augen führen, dass die produzierten oder verbrauchten Mengen in den letzten Jahrzehnten gleichsam explodiert sind. Als problematisch erweist es sich, Entwicklungen zu objektivieren – ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart. Wenn etwa Neurath 1939 darauf hinweist, dass „die Migration noch nicht Gegenstand der internationalen Planung ist“, dann stellt Deutinger wertend fest, „dass sich die Dinge nur verschlimmert haben“. Heute sei „die Migration Gegenstand restriktiver nationaler Planung“ und werde „vor allem von der wachsenden Zahl rechtspopulistischer Politiker als politisches Instrument eingesetzt“. Im besten Fall sähen die Aufnahmeländer in den Migranten „einen potenziellen Verjüngungsfaktor für eine alternde Bevölkerung, um die Rentenkassen am Laufen zu halten“. Auch die Kriterien, an denen etwas gemessen wird, haben sich vielfach verändert. Ob es um den Wohlfahrtsstaat, das Bevölkerungswachstum oder die Landwirtschaft geht, um fossile Brennstoffe oder den „Beginn des Konsumdenkens“, um Welthandel, Bequemlichkeit und Lifestyle, um das Plastikzeitalter oder die Digitalisierung – alles wird vernünftig, ausgewogen und materialreich präsentiert. Doch während die Bildstatistiken aufrütteln, vermag der Text die Komplexität der Systeme und die sich daraus ergebenden Herausforderungen nur zu benennen, aber selten zu durchdringen.

Heute gibt es zu viel Information

So bewundernswert Deutingers Unternehmen ist und wie sehr das Isotype noch heute fasziniert – Neuraths Methode aktualisierend fortzuschreiben, trifft auf eine grundlegend veränderte mediale Struktur der Öffentlichkeit. Informationen sind alles andere als neutral. Auch Rezeptionserwartung und -haltung sind heute ganz andere. Nicht zu vergessen: Herrschte einst (nicht nur bei Arbeitern) ein Mangel an Informationen, verwirrt im Dickicht bloßer Meinungen heute ein Zuviel. (Ganz abgesehen von „Big Data“, „Fake News“ und dem Triumph statistischer Mittelwerte durch KI.) Hinzu kommt: Deutingers Rede von „der Moderne“ bleibt vage, pauschal, ohne erhellende Differenzierung. Auch wenn Text und Bildstatistiken für Abhilfe sorgen wollen – es bleiben Datensätze und Statistiken. Woraus Deutinger am Ende den Schluss zieht: „In den 157 Illustrationen dieses Buches sind wir alle zweimal vertreten – einmal als einzelne Menschen und einmal als Teil der Weltbevölkerung insgesamt.“ Das „hinterhältige Biest“ mit dem Namen Moderne spreche uns als Individuen an, ernähre sich aber von Mengen, verarbeite sie und produziere immer größere Zahlen. Irgendwo dazwischen suchen wir einen Weg in die Zukunft.


© Lars Müller Publisher

Joy and Fear

Theo Deutinger

Design: Theo Deutinger
Geb., 216 S., 217 Illustrationen
Text in englischer Sprache
Lars Müller Publishers, Zürich 2023
ISBN 978-3-03778-743-4
45,00 Euro

Für Frühjahr 2024 hat Lars Müller einen Reprint der Originalausgabe von Otto Neuraths „Modern Man in the Making“ angekündigt.


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