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Wie war es, in einem avantgardistischen Gebäude der Moderne aufzuwachsen? Hat die neue Art zu wohnen das Leben verändert? Julia Jamrozik und Coryn Kempster haben mit ehemaligen Bewohner/innen darüber gesprochen, an was in den Häusern von Mies van der Rohe, Hans Scharoun, J. J. P. Oud und Le Corbusier sie sich erinnern.

Von Thomas Wagner.

Mies van der Rohe. Treppe Villa Tugendhat.
Mies van der Rohe. Treppe Villa Tugendhat. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Als Grete und Fritz Tugendhat ihre von Mies van der Rohe im Internationalen Stil entworfene Villa in Brno bewohnten, kamen zu den Kindern Hanna, Ernst und Herbert noch ein Kindermädchen, ein Chauffeur, samt Frau und Hund, sowie eine Köchin und zwei Dienstmädchen. Der Bau für die Textilfabrikanten war nicht nur architektonisch außergewöhnlich, er beherbergte auch einen großbürgerlichen Haushalt. Ernst Tugendhat wurde 1930, wenige Monate vor dem Einzug in die Villa, in Brünn geboren. Er war gerade mal acht Jahre alt, als die Familie das Haus auf der Flucht vor der bevorstehenden Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutsche Reich verließ. Nach seinem Verhältnis zur Villa gefragt, stellt Tugendhat, Philosoph und zuletzt Professor an der FU Berlin, denn auch lakonisch fest: „Ich bin dem Haus relativ neutral gegenüber eingestellt. Es bedeutet mir nicht so viel.“ Woran er sich erinnert, ist der Klang der Autohupe, ein unverkennbares „Da-da-dada“, das die Heimkehr seines Vaters ankündigte – bezeichnenderweise nichts aus dem visuellen, sondern aus dem akustischen Gedächtnis. Enger als zum Haus blieb in der Familie die Beziehung zu einigen der Möbel, die aus Brno über die Schweiz bis nach Venezuela mitreisten.

Außenansicht Villa Tugendhat von Mies van der Rohe
Außenansicht Villa Tugendhat von Mies van der Rohe. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster
Innenansicht Villa Tugendhat von Mies van der Rohe
Mies van der Rohe. Innenansicht Villa Tugendhat. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Eine Reise zu Mies, Scharoun, Oud und Le Corbusier

Reihenhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung
Außenansicht eines der 1927 von J. J. P. Oud entworfenen Reihenhäuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Die Frage, die Julia Jamrozik und Coryn Kempster sich und ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern berühmter Häuser gestellt haben, klingt im Grunde simpel: „Wie ist es wohl gewesen, in einer Villa oder Wohnsiedlung der frühen Moderne aufzuwachsen?“ Um aus ersten Hand mehr und genaueres zu erfahren, haben die beiden die Ikonen des modernen Bauens besucht und ehemalige Bewohnerinnen und Bewohnern auf Basis der Oral-History-Methode nach ihren Kindheitserinnerungen gefragt. Im Sommer 2015 haben sich die kanadischen Architekten und Hochschullehrer mit ihrem eigenen Kind im Wohnwagen auf die Reise zu Mies van der Rohes Villa Tugendhat in Brno, zu Hans Scharouns Villa Schminke im sächsischen Löbau, zu Le Corbusiers Unité d‘Habitation in Marseille und zu J. J. P. Ouds Reihenhaus in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung gemacht. Nicht zufällig haben sie mit einem Reihenhaus, zwei (sehr unterschiedlichen) Villen und Le Corbusiers ebenso legendärer wie einflussreicher Wohnmaschine drei exemplarische Bautypen ausgewählt.

Belebte Orte, keine abstrakten Gebilde

Dach von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille
Dach von Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Häuser sind alles andere als abstrakte Gebilde. Betrachtet man allein Pläne oder von allem Alltäglichen gereinigte Fotografien, wirken die Räume schnell wie im Festtagskleid herausgeputzt. Dass Häuser von Menschen (bzw. eigenwilligen Architekt/innen) für Menschen gemacht und zum darin leben gedacht sind, wird über den Nimbus der Konzepte der Modernen oft genug vergessen. Ganz anders hier: Jedes besuchte Gebäude ist in möglichst vielen seiner Facetten liebevoll beschrieben. Lage, Charakter und Zuschnitte der Räume, die Wahl der Materialien und Ausstattung, sprechende Details machen das Gebäude so gut es geht präsent. Erhellende Aufnahmen aus den privaten Fotoalben der früheren Bewohnerinnen und Bewohner historische und aktuelle Fotografien der Gebäude sowie die Wohnstruktur erklärende Grundrisse ergänzen die behutsam nacherzählten Berichte von den Gesprächen. Sie runden das Bild der Häuser als Orte gelebten Lebens ab, die für ihre Bewohner/innen mehr waren als Teil einer heroisierenden Architekturgeschichte.

Alles zusammen eröffnet ganz andere Perspektiven: Für Rolf Fassbaender ist es der Balkon seines Zimmers in einem der 1927 von J. J. P. Oud entworfenen Reihenhäuser in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung, der ihm besonders in Erinnerung geblieben ist, weil er dort unter freiem Himmel schlafen konnte. Helga Zumpfe, die zusammen mit ihren Geschwistern ab ihrem dritten Lebensjahr im Haus Schmicke in Löbau (dem „Nudeldampfer“) wohnte, bis sie fünfzehn war, erlebte das Haus (und den Garten mit Teich) von Hans Scharoun als offen und zugänglich: „In meinen Erinnerungen an das Haus sehe ich Licht – Weite und Freude.“ Die kindgerechte Planung reicht bis zu auf Augenhöhe der Kleinen in den Türen platzierten bunten Bullaugen, durch die „man als Kind durchgucken und die Welt immer in einer anderen Farbe sehen kann“. Und Gisèle Moreau, die als Kind, Mutter und Großmutter in Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille lebte, lässt all die Wandlungen wieder aufleben, die das Leben in der berühmten Wohnmaschine durchlaufen hat.

Ein Stück vom verlorenen Paradies der Kindheit

Spielzimmer in der Haus Schminke
Kinderzimmer in der Villa Schminke. Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Das Buch kennzeichnet aber auch einige Fallstricke des Erinnerns. Sichtbar wird die Dialektik von öffentlicher Verehrung und privatem Erleben – wie ferngerückt vom alltäglichen Erleben derartige Ikonen für gewöhnlich präsentiert werden und wie selbstverständlich ihr purifiziertes Bild die Vitrinen einer entrückten Architekturgeschichte schmücken, die großartige Schöpfer, aber nur selten Nutzerinnen und Nutzer kennt. Weil Mies van der Rohes Villa Tugendhat vor zehn Jahren in einer sorgfältigen Rekonstruktion in ihren Ursprungszustand zurückversetzt wurde, gilt sie als Beispiel formaler und konstruktiver Perfektion – wirkt in ihrer musealen Gestalt aber groß und leer. Doch auch wenn vieles längst vergessen wurde, den Kindheitserinnerungen lässt sich ein ums andere Mal eine unvoreingenommene Sicht auf die Ikonen der Moderne ablauschen. Man begreift: Architekten und Architektinnen haben es durchaus in der Hand, ob ihre Kreation die lebendige Aneignung durch seine Bewohner/innen bewusst fördert oder verweigert. An Mies und Scharoun lässt sich gut beobachten, wie verschieden die Ansätze auch bei den Bauten der Moderne sind. Was die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen angeht, bringt es Helga Zumpfe auf den Punkt, wenn sie feststellt: „Als Kind lebt man und erlebt man nicht! – Ich denke mal, für Kinder ist einfach alles normal. Es war halt, wo wir wohnten.“ Die Erinnerung ist nicht nur ein weites Land; manchmal ist sie auch ein Haus, ein Garten, ein Teich, ein Spielzimmer, eine Terrasse – eben ein Stück vom verlorenen Paradies der Kindheit.


Cover "Kinder der Moderne"
© Birkhäuser, Foto: Julia Jamrozik und Coryn Kempster

Kinder der Moderne. Vom Aufwachsen in berühmten Gebäuden

Julia Jamrozik und Coryn Kempster (Hg.)

320 S., geb., Birkhäuser Verlag, Basel 2021

ISBN 9-783-0356-2167-9

40 Euro

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