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Große Gesten und sinnstiftende Orte: Wer in China erfolgreich Großprojekte gestalten will, muss sich auf andere Bedürfnisse und Gegebenheiten einstellen als in Europa. Wei Wu und Magdalene Weiss, Executive Partner im Architekturbüro gmp · von Gerkan, Marg und Partner, erzählen, wie gmp die chinesische Architekturlandschaft mitgestaltet und welchen Herausforderungen sie dabei begegnen.

Interview von Fabian Peters

Wei Wu (links) und Magdalene Weiss (rechts), Foto: Lukas Schramm

Fabian Peters: Bei den Iconic Awards 2023: Innovative Architecture hat gmp gleich mehrere Auszeichnungen für Großprojekte in China verliehen bekommen, unter anderem für das „Silk Road International Conference Center“ in Xi’an und für die „Changzhou Culture Plaza“. Gibt es eine bestimmte Qualität, die beide Bauten verbindet?

Wei Wu: Zum Beispiel haben die beiden Projekte die Gemeinsamkeit, dass sie von Magdalena Weiss entworfen wurden.

Magdalene Weiss: (lacht) Die beiden Projekte sind tatsächlich von unserem Team in Schanghai entworfen worden. Beide Projekte sind aber außerdem öffentliche Gebäude und sie sind beide sehr großmaßstäblich. Beide Projekte sollen identitätsstiftend sein und eine Wirkung im Stadtraum erzielen. Insofern waren beides Bauaufgaben, bei denen wir nach ausdrucksstarken Lösungen gesucht haben. Und in beiden Fällen sind es geometrische Elemente mit klaren konstruktiven Prinzipien, die die Großform bilden und die den Ausdruck der Architektur ergeben.

Welchen Ausdruck wollten Sie bei den beiden Projekten erzielen?

Magdalene Weiss: In der Entwurfsphase haben wir das Silk Road Conference Center immer „Halfmoon“ genannt – eigentlich wäre „Sichelmond“ treffender gewesen. Das Gebäude zeigt sanfte Kurvenformen am Dachansatz und an der Basis. Die Fassade scheint regelrecht über dem Boden zu schweben, denn sie ist hängend konstruiert. Dadurch besitzt sie eine enorme Leichtigkeit und Transparenz. Die geschwungenen Formen sind auch eine historische Referenz an die Dächer der traditionellen öffentlichen Gebäude in China.

Wie verhält es sich bei der Changzhou Culture Plaza?

Magdalene Weiss: Auch bei dem Projekt in Changzhou ist es so, dass wir ein eingängiges Grundbild benutzt haben. Hier sind es sechs modulare Elemente, die zusammengesetzt das Bild von Brückenbögen ergeben. Die sechs Baukörper sind auf einer großen Achse angeordnet, die auf das Rathaus zuläuft.

Changzhou Culture Plaza © Schran Images

Das gewaltige Konferenzzentrum Silk Road Conference Center ist als kubische Großform über einem quadratischen Grundriss gestaltet. Wie stehen hier Form und Funktion miteinander in Beziehung?

Magdalene Weiss: Das Projekt ist ganz klar aus der Funktion entwickelt. Für das Gebäude waren mehr als 4.000 Quadratmeter stützenfreie Saalflächen gefordert. Nun spannen große Stahlträger über diese zentral positionierten Säle hinweg, lagern auf den vertikalen Erschließungskernen auf und ragen über diese hinaus. So nehmen sie nicht nur die Dachlast auf, sondern tragen auch die hängende Fassade.

Silk Road International Conference Center © gmp

Während das Konferenzzentrum in Xi’an eine Hauptfunktion erfüllen muss, nimmt die Changzhou Culture Plaza eine ganze Reihe von Institutionen auf.

Magdalene Weiss: So ist es. Eine Bibliothek und ein Kunstmuseum standen von Beginn an als Nutzer fest. Anfänglich war auch noch ein Technikmuseum geplant, das aber nicht realisiert wurde. Zudem waren kommerzielle Nutzungen vorgesehen. Da sich im Bauprozess die Anforderungen immer wieder stark veränderten, musste unser Entwurf flexibel darauf regieren können. Wir mussten Räume schaffen, die verschiedene Nutzungen aufnehmen und die auch noch weiterentwickelt werden können.

Wie hat gmp den öffentlichen Raum bei den beiden Projekten gestaltet?

Magdalene Weiss: Die beiden Projekte sind vom Ansatz sehr unterschiedlich. Das Silk Road Center bildet den Eingang zu einem großen Messegelände etwas außerhalb der Innenstadt. Darum hat es sehr große Foyerflächen, typisch für eine Messeanlage. Die Changzhou Culture Plaza befindet sich in einem neu entstandenen Stadtzentrum, umgeben von sehr dichter Wohnbebauung. Es gibt ein Rathaus, es gibt Sportanlagen – und es gibt einen großen Bürgerpark, der gemeinsam mit dem Komplex entwickelt wurde. Das städtische Umfeld haben wir bei dem Entwurf ebenso aufgenommen und miteinbezogen wie die neue Parkanlage, die sich unter den Bögen und angehobenen Gebäudevolumen erweitert.

Wie unterscheidet sich die Herangehensweise bei Kulturprojekten in China im Vergleich zu einem Projekt gleicher Art in Europa?

Wei Wu: Anders als in Europa sind in China selbst in Großstädten Kulturangebote bislang oftmals rar. Es fehlt nicht selten eine identitätsstiftende Architektur jenseits von gewerblichen Bauten und Shopping-Malls. Wenn wir in Europa das Raumprogramm für einen Kulturbau vorgegeben bekommen, ist das bereits sehr detailliert ausgearbeitet. In China stehen wir als Architekt*innen bei der Konzeption solcher Kulturorte aber häufig vor der Herausforderung, dass es anfänglich weder einen Betreiber gibt, noch die Nutzung final festgelegt ist.

Wei Wu, Foto: Lukas Schramm

Wie gelingt es gmp unter den Voraussetzungen in China, identitätsstiftende Architektur zu entwickeln?

Wei Wu: Das kann man nicht verallgemeinern. Xi’an beispielsweise ist eine der ehemaligen Hauptstädte des Kaiserreichs China. Die mehr als 2000 Jahre alte Armee aus Tonsoldaten, die bei Xi’an vor etwa 50 Jahren entdeckt wurde, ist weltberühmt. Die Stadt hat eine sehr starke Sehnsucht nach Tradition, auch nach der Fortsetzung der Tradition. Nachdem wir uns bereits ein Jahr mit dem Projekt des Konferenzzentrums beschäftigt hatten, trafen wir den Bürgermeister, der sich für ein Gebäude im Stil der Han- und Tang-Dynastie aussprach. Wenn solche Anforderungen gestellt werden, dann schlagen die meisten chinesischen Architekten einen „postmodernen“ oder „klassischen “ Weg ein. Ich hatte bereits befürchtet, dass wir aufgeben müssen. (lacht) Aber dann haben wir überlegt, ob wir nicht bestimmte Ideen traditioneller chinesischer Architektur in eine moderne Sprache übersetzen könnten – vor allem die auskragenden Dächer. Das Dach des Konferenzzentrums kragt nun dank einer raffinierten Stahlkonstruktion stützenlos über 40 Meter aus. Unsere Interpretation der chinesischen Architektur kam auch bei den Entscheidungsträgern sehr gut an. Das Ergebnis ist eine moderne Architektur, die aber die Sehnsucht nach chinesischer Tradition akzeptiert.

Das Kulturzentrum in Changzhou spricht eine ganz andere Architektursprache…

Magdalene Weiss: Das Bild der Brücke, das wir dort benutzen, wird von uns gleichzeitig durch den enormen Maßstab stark abstrahiert. Aber die Brücke ist hier nicht nur eine formale, sondern auch eine statische Idee, die sich in der baulichen Umsetzung wiederfindet.  Unterhalb der Plaza mit den Kulturgebäuden befinden sich die kommerziellen Nutzungen, die um einen „Canyon“ angeordnet sind. Durch diese Aufteilung entstehen ganz spezielle Außen- und Innenräume, die eine große Anziehungskraft besitzen.

Wei Wu: Wenn Sie schon einmal in China waren, haben Sie sicher festgestellt, dass solche Großbauten häufig mit Zäunen oder anderen Schutzmaßnahmen umgeben sind. Aber das Kulturzentrum in Changzhou ist wirklich frei zugänglich.

Magdalene Weiss: Es gibt dort beispielsweise eine Außenbühne, die das Areal unglaublich belebt. Da ist jedes Wochenende richtig was los. Und auch vor der Bibliothek stehen Schlangen von Leuten. Sie wird von vielen jungen Leuten besucht. Ich freue mich sehr, dass die Plaza so angenommen wird und dass sie wirklich ein erweiterter öffentlicher Raum ist.

Unterscheiden sich die Erwartungen an öffentlichen Raum in China von denen in Europa?

Wei Wu: In meiner Wahrnehmung gibt es in China immer zwei zuweilen konkurrierende Bedürfnisse: Einerseits die Erwartung eines repräsentativen Stadtraums, in dem große staatliche Events durchgeführt werden können. Andererseits wird aber auch ein öffentlicher Raum erwartet, den die Bürger im Alltag benutzen. Diese beiden Bedürfnisse gut miteinander zu kombinieren, ist natürlich für jeden Architekten eine große Herausforderung, die er immer in enger Abstimmung mit dem Auftraggeber – und häufig auch den Behörden und der Regierung – lösen muss.

Wie eng ist die Klammer zwischen den Projekten, die gmp in Europa, in Nord- und Südamerika und in China umsetzt?

Wei Wu: Alle Projekte unseres Büros werden von einer Person aus dem Kreis der Executive Partners verantwortet. Damit bewahren wir eine große Kontinuität der persönlichen Verantwortung, mit der Meinhard von Gerkan und Volkwin Marg über Jahrzehnte gmp geprägt haben. Uns verbindet dabei eine gemeinsame Grundlage, die durch die Positionen des dialogischen Entwerfens definiert ist. Wir sprechen die gleiche Sprache in unterschiedlichen Dialekten, wie es Meinhard von Gerkan einmal formuliert hat. Im Alltag haben wir eine sehr enge Verbindung zwischen Hamburg, Schanghai, Berlin und Peking. Und einmal im Jahr kommen wir aus allen Standorten zusammen, um unsere aktuellen Projekte gemeinsam zu evaluieren. Videokonferenz, Telefonat und E-Mail zwischen Deutschland und China finden jeden Tag statt.

Was unterscheidet den Planungsprozess mit einem chinesischen Bauherrn von dem mit einem europäischen?

Magdalene Weiss: In China ist der Wunsch nach ikonischen Gebäuden besonders groß. Der Ausdruck der Architektur steht häufig im Vordergrund.

Magdalene Weiss (links) und Wei Wu (rechts), Foto: Lukas Schramm

Vermissen Sie in Europa im Vergleich zu China das großmaßstäbliche Denken?

Magdalene Weiss: Bei einzelnen Projekten in Europa ist es sicher so, dass man sehr kleinteilig arbeitet und sich wünscht, es ginge schneller. Aber ich würde die unterschiedlichen Herangehensweisen nicht gegeneinander aufwiegen wollen, denn das Arbeiten an Details kann sehr befriedigend sein, gerade wenn man genau weiß, für wen man baut. In den chinesischen Projekten fehlt zuweilen die Zeit für diese Detailarbeit.

In Deutschland ist bei Großprojekten Partizipation inzwischen ein großes Thema. Ist so etwas in China überhaupt denkbar?

Wei Wu: Es gibt in China ein offizielles Instrument der Partizipation – ähnlich wie die öffentliche Auslegung in Deutschland: Wenn wir beispielsweise einen Wettbewerb gewonnen haben, wird der Entwurf öffentlich online ausgestellt und die Bürger dürfen Einspruch erheben. Gegen dieses Bürgervotum werden dann allerdings andere Ansprüche abgewogen, so dass ihre Berücksichtigung keineswegs sicher ist.

Würden Sie sich wünschen, die Bürger könnten mehr Anteil an solchen Prozessen nehmen?

Wei Wu: Das hat in den großen Städten Chinas schon begonnen, insbesondere auf der Ebene der Nachbarschaften, zum Beispiel in Schanghai: Es gibt dort sogenannte „Chief-Planer“, „Chief-Architects of Street“, die für bestimmte Quartiere und Straßen zuständig sind. Die haben von Seiten der Stadt die Aufgabe, Diskussionen zu initiieren und Feedback zu sammeln. Ob das allerdings wirklich in einem großen Umfang stattfindet – da bin ich mir unsicher.

Im Jahr 2005 eröffnete in München im Architekturmuseum der TU die Ausstellung „Ideale Stadt – reale Projekte. Von Gerkan, Marg und Partner in China“. Wie hat sich die Architektur in China seitdem verändert und fortentwickelt?

Magdalene Weiss: Beispielsweise gibt es jetzt zahlreiche Umbauprojekte in China. Von großem städtischem Wachstum zu Beginn über bauliche Verdichtung geht die Entwicklung nun immer mehr in Richtung von Sanierung und Bauen im Bestand. Es hat sich auch die Vorstellung geändert, was eine gute Stadt ist. Schanghai etwa wurde in den letzten Jahren immer mehr zum Wasser hin geöffnet und gleichzeitig das bestehende Stadtzentrum aufgewertet.

Wei Wu: Seit gmp 1998 mit der Deutschen Schule in Peking das erste Projekt in China realisierte, hat sich nicht nur die Ausführungsqualität am Bau enorm verbessert, sondern auch die verfügbare Bautechnologie. Als mit dem Shanghai Tower 2015 das höchste Gebäude Chinas errichtet wurde, waren daran ausschließlich chinesische Firmen beteiligt.

Foto: Lukas Schramm

Haben die großen internationalen Büros wie gmp dazu beigetragen, dass Chinas Architektur in den letzten Jahrzehnten einen solchen „Sprung nach vorn“ machen konnte?

Wei Wu: Als ich in China anfing zu arbeiten, sagten die Bauingenieure immer: „Macht ihr Architekten mal den Entwurf. Wenn ihr mit euren Sachen fertig seid, komme ich zu euch.“ Das heißt, der Entwurfsprozess war eine Aufgabe der Architekten, an dem sich die Bauingenieure nicht beteiligten. Diese Auffassung unterscheidet sich natürlich sehr klar von der deutschen Denk- und Arbeitsweise. In den letzten Jahrzehnten hat gmp gemeinsam mit anderen Büros wie Henn Architekten und HPP die deutsche Arbeitsweise nach China exportiert. Aber es ist für mich immer noch ein großer Unterschied zwischen dem Berufsverständnis deutscher und chinesischer Architekten zu erkennen: In Deutschland geht es darum, wie man ein Haus baut. Das bedeutet auch, dass man zur Baustelle fährt und alles kontrolliert. (Gelächter) In China zeichnen die Architekten ihre Pläne fertig, geben sie ab und kehren nur gelegentlich zur Baustelle zurück. Inzwischen kommt aber die Bauüberwachung durch die Architekten, wie wir sie aus Deutschland kennen, langsam auch in China an. Das führte in meiner Wahrnehmung zu einer erkennbar besseren Bauqualität.

Einen Überblick zu allen ausgezeichneten Projekten von gmp · von Gerkan, Marg und Partner bei den ICONIC AWARDS 2023: Innovative Architecture finden Sie hier.

Alle weiteren Projekten der ICONIC AWARDS 2023: Innovative Architecture können Sie in der Online-Showroom entdecken.


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