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Es ist ein gängiges Klischee: Archive sind verstaubte, langweilige Orte, an denen sich Wissenschaftler*innen in spezielle und ungewöhnliche Themen vertiefen. Das Gespräch mit der Leiterin der University of Brighton Design Archives, Sue Breakell, macht den Realitäts-Check – und zeigt: Gerade Design-Archive sind lebendige Orte, an denen nicht nur wichtige gesellschaftliche Themen verhandelt werden, sondern auch eine Disziplin zu sich selbst finden kann.

Von Carl Friedrich Then

Sue Breakell im Leseraum der University of Brighton Design Archives, © University of Brighton

Archive sind das Gedächtnis einer Gesellschaft. Sie helfen dabei, ein Bewusstsein für historische Prozesse und das Gewordensein der Gegenwart zu schaffen. Das kann gerade für die noch vergleichsweise junge und schnelllebige Disziplin des Designs von besonderer Bedeutung sein. Denn Archive helfen nicht nur dabei, die Vergangenheit jenseits zahlreicher Kreativitätsmythen zu verstehen, sondern auch bei einer bewussten Verortung in der Gegenwart. Die Lage in Sachen Design-Archive in Deutschland ist nicht zuletzt aufgrund der föderativen Strukturen komplex und wäre einen eigenen Beitrag wert – Institutionen wie Bauhaus-Archiv und Werkbundarchiv befinden sich im Umbruch, beziehungsweise sind ähnlich wie auch das Archiv der HfG Ulm vor allem als Ausstellungsorte präsent.

In ruhigerem Fahrwasser befinden sich hingegen die University of Brighton Design Archives. 1994 aus den Archiven des britischen Design Council hervorgegangen, betreut diese Institution inzwischen auch die Archivbestände des ICSID (heute WDO World Design Organization) sowie des ICOGRADA (ehem. Weltverband Grafikdesign): Organisationen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die internationale Designwelt mit Konferenzen, Veranstaltungen und zahlreichen Publikationen vernetzten. Darüber hinaus finden sich dort heute die Archivalien mehrerer bedeutender Persönlichkeiten aus Design und Architektur – darunter auch Nachlässe von Gestalter*innen, deren Schicksal und Wirken eng der deutschen Geschichte und ihren Höhen und Tiefen verbunden sind. So beispielsweise der Typograph und Grafikdesigner Anthony Froshaug (1920 -1984), der von 1957 bis 1961 an der HfG Ulm lehrte, aber auch der Emigrant FHK Henrion (1914-1990), der in Nürnberg geboren wurde und nach einem Zwischenstopp im Paris der 1930er zu einer bedeutenden Persönlichkeit in der britischen Designszene wurde – bekannt unter anderem für seine Entwürfe für KLM Royal Dutch Airlines oder British European Airways. Auch zu nennen sei hier die Szenenbildnerin Natasha Kroll (1912 – 2004), die von 1922 bis 1936 in Berlin lebte und an der Reimann-Schule lehrte. Nach ihrer Emigration nach London arbeitete sie nicht nur für britische Kaufhäuser, sondern auch für die BBC sowie für diverse Filmproduktionen: 1974 gewann sie den BAFTA für ihr Setdesign von The Hireling, welcher bereits 1973 in Cannes mit dem Grand Prix (heute Goldene Palme) ausgezeichnet wurde.

Schaufenstergestaltung für das Simpsons & Picadilly Kaufhaus in Lodnon von Natasha Kroll aus dem Jahr 1953, Natasha Kroll Archive, © University of Brighton Design Archives

Was die Brighton Design Archives aber vor allem auszeichnet, ist die enge Kooperation mit der University of Brighton und den dort angebotenen Studien- und Promotionsstudiengängen vor allem im Design sowie die Anbindung an das renommierte Centre for Design History. Neben regelmäßigen Ausstellungen werden auch Vortragsreihen und Diskussionsrunden angeboten. Dabei geht es dem Team um Sue Breakell darum, das Archiv in seiner Struktur als Wissensmedium zu reflektieren, vornehmlich auch im Austausch mit Archivar*innen, Wissenschaftler*innen und Kreativen. In diesem Rahmen fand zuletzt die Vortragsreihe Archive as Method statt, die Teil der größeren Initiative Archival Cultures of Design ist. Gerade solche Veranstaltungen zeigen, wie vielschichtig die Arbeit eines Archivs verstanden werden kann. Denn Archive sind nicht nur Dienstleister. Ihre Struktur sowie die Art und Weise, wie sie betrieben werden, haben grundlegenden Einfluss auf das in ihnen gespeicherte Wissen.

Synergien mit dem Vergangenen

Bevor Sue Breakell 2009 Leiterin der Brighton Design Archives wurde, arbeitete sie mehrere Jahre im Tate Archive. Sie weist daraufhin, dass Archive in der Kunstszene einen weitaus größeren Stellenwert als im Design haben: „Die Idee des Archivs wird seit vielen Jahren von Künstler*innen sehr produktiv genutzt, um sich auf vielschichtige Art komplexen Themen zu widmen. Sicherlich sind die Felder von Kunst und Design verschieden, aber ich würde mich freuen, wenn die Potenziale von Archiven auch vermehrt von Designer*innen genutzt werden würden.“ Denn gerade die überlieferten Dokumente und Artefakte, die aus einer kreativen Praxis stammen, bieten den Raum für eine lebendige, greifbare und somit anschauliche Interaktion mit der Vergangenheit: „Archive kreativer Disziplinen haben meines Erachtens etwas besonders Anregendes und Inspirierendes an sich, in dem Sinne, dass durch sie Begegnungen mit kreativen Momenten, Verbindungen und Settings der Vergangenheit möglich werden. Dadurch wird eine kollaborative Zusammenarbeit jenseits zeitlicher Grenzen für Historiker*innen, Kurator*innen aber auch Kreative möglich. Das Archiv hilft uns nicht nur Einzelpersonen, sondern auch die Entwicklung einer Disziplin, seiner Akteure und die Anschlusspunkte und Netzwerke, die sie verbanden, zu verstehen.“

Welche Synergien dabei beispielsweise in der Ausbildung junger Designer*innen entstehen, zeigt ein kürzlich abgeschlossenes Projekt mit den Grafikdesign-Studierenden der University of Brighton, von dem Breakell berichtet: „Kürzlich haben wir unseren Grafikdesign-Studierenden eine Aufgabe gestellt, die Anthony Froshaug bereits 1970 seinen Studierenden in Brighton gegeben hatte. Wir wollten sehen, wie sie mit einer Aufgabe umgehen, die vor so langer Zeit gestellt wurde. Und zwar sowohl in der Hinsicht, dass sie dadurch die Geschichte ihrer Disziplin und den historischen Kontext reflektieren als auch im Hinblick darauf, welche Fragen diese Aufgabe im Jahr 2023 mit sich bringt. Dabei ist es natürlich auch wichtig, die Aufgabenstellung in ihrer ursprünglichen Form zu nutzen, um ein Gefühl für die Zeit und die Person zu bekommen. Gerade hier zeigt sich dann auch, wie vielschichtig die Relevanz von Archiven sein kann, insbesondere in Zeiten der Digitalisierung. Inhalte, Kontexte und Materialitäten können durch sie ganz anders erfahren und erschlossen werden. Eine andere Aufgabe für die Studierenden war es, ein Exponat für eine Ausstellung zu entwerfen, das entweder auf etwas aus dem Archivgut oder auf die Idee des Archivs selbst reagiert. Die Ergebnisse haben uns sehr berührt, denn durch die Arbeiten der jungen Designer*innen lässt sich das Archiv und die Sammlung aus einer ganz anderen Perspektive betrachten. Ich denke, wir ermöglichen den Studierenden damit eine besondere Erfahrung, an die sie sich hoffentlich auch noch später erinnern werden.“

Anthony Froshaug 1966 im Rahmen der Performance Painting Recital an der Watford School of Art, Anthony Froshaug Archive,
© University of Brighton Design Archives

Das Archiv als Spiegel der Gesellschaft

Diese Anbindung an Lehre und Forschung ist integraler Bestandteil der Arbeit der Brighton Design Archives. Aber Sue Breakell betont, dass es auch wichtig ist, das Archiv nicht nur als einen eindimensionalen Ort zu verstehen, der es lediglich ermöglicht Wissen abzurufen. Denn das Archiv selbst prägt und strukturiert das in ihm hinterlegte Wissen. Das geschieht einmal durch die Entscheidung darüber, was und wie etwas überhaupt gesammelt wird und hat oft genug auch damit zu tun, welche finanziellen Ressourcen und wie viel Platz zur Verfügung stehen.

Eine weitere Rolle spielen nationale Kontexte, die genau solche Parameter bestimmen: „Mancherorts haben sich Design-Archive aus einer Motivation heraus entwickelt, Sammlungen zusammenzustellen, die vor allem auf formalistischen Kriterien basieren, die nationale Erzählungen manifestieren. Andernorts wiederum entstanden Sammlungen durch Praktiker*innen, die an Orten und in Zusammenhängen lebten, die andere Geschichten und Erzählungen kaum möglich machten. Jeder Kontext bringt besondere Bedingungen mit sich, die das Design als Praxis prägen und somit auch die dazugehörigen Archive. Daraus können wir lernen und uns die Frage stellen, welche Aufgabe Archive für uns und die Gesellschaft einer globalen Zukunft übernehmen sollen.“

Archive sind Produkte einer Gesellschaft und ihrer politischen Verfassung, wodurch sich auch für die Brighton Design Archives einige Fragen ergeben, mit denen sich Breakell auseinandersetzen will: „Unsere Sammlung hat ihren Schwerpunkt auf britischem Design und globalen Design-Organisationen des 20. Jahrhunderts. Damit sprechen sie von einer Zeit zur Mitte des Jahrhunderts, zu der vieles noch möglich schien. Das Design versprach damals, zum Aufbau einer besseren Welt beitragen zu können. Doch institutionalisierte Archive, so wie wir eines sind, haben auch zahlreiche blinde Flecken, denn Archive spiegeln eben auch nur die Machtstrukturen der Welt, in der sie gegründet und betrieben werden, wider. Dahingehend bekommen wir auch immer wieder Fragen von unseren Studierenden: Warum finden wir nicht mehr Frauen im Archiv? Wo sind die LGBTQ+-Stimmen oder die Stimmen des globalen Südens? – Wie für andere Archive auch, besteht für uns die Aufgabe darin, diese Fragen gemeinsam zu erforschen und unsere Sammlungen zu nutzen, um auf die Anforderungen von Studierenden, Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zu reagieren.“

Nicht nur Aufbewahrungskästen: Das Archiv als Ort des Dialogs

Archive sind also nicht nur Orte der Aufbewahrung, sie bieten auch den Platz für wichtige Diskurse, in denen Gesellschaft, aber vor allem auch die eigene Disziplin reflektiert werden kann. Anhand von Dokumenten und Artefakten lässt sich anschaulich erfahren, wie Designer*innen in der Vergangenheit auf kreative Herausforderungen geantwortet haben. Darüber hinaus lässt sich aber auch anhand einer Sammlung erkennen, welche Narrative und Diskurse in der Vergangenheit geführt wurden und welche Gruppen von diesen Erzählungen ausgeschlossen wurden. In den Brighton Design Archives wird beides versucht. Die Anbindung an Lehre und Forschung der University of Brighton, die Zusammenarbeit mit dem Centre for Design History, aber auch die Nähe zum britischen Design Council sind hier natürlich von Vorteil. Aber gerade Veranstaltungsreihen wie „Archival Cultures of Design“ zeigen das Potenzial eines Archivs, wenn es versucht, sich international zu vernetzen, um sich selbst, andere Archive sowie die Disziplin des Designs in einem globalen Kontext zu hinterfragen.

Wer nicht unbedingt gleich nach Brighton fahren möchte, kann das Archivgut aber auch digital besuchen. Hierzu vereinbart man via Email Termine mit den Mitarbeiter*innen des Archivs, in denen ausgewählte Dokumente und Materialien mithilfe eines Visualisers eingesehen werden können.


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