Mit dem siebenbändigen „Architectural Guide Sub-Sahara Africa“ ist Philipp Meuser und Adil Dalbai ein Kompendium gelungen, das nicht nur ein Panorama der vielfältigen Architekturen Afrika s aufspannt, sondern auch hilft, Zerrbilder des Kontinents zu korrigieren.
Von Thomas Wagner.
Das älteste europäische Gebäude in Subsahara-Afrika ist das 160 Kilometer westlich von der ghanaischen Hauptstadt Accra gelegene Elmira Castle. Erbaut haben es die Portugiesen im Jahr 1482. Kolonialbauten aus verschiedenen Epochen mögen für den eurozentrischen Blick vertraut wirken. Wer aber weiß außerhalb Afrikas etwas über die verzierten Lehmbauten in der Savanne? Oder darüber, wie sich inmitten eines Baubooms und der Verbreitung des Narrativs „Africa Rising“ die ghanaischen Architektur-Industrie entwickelt hat und welche Rolle ein rasantes Wirtschaftswachstum und eine aufstrebende Mittelschicht dabei spielen? Kennen wir die anthropomorphen Bauten in Togo, die Regierungsbauten Kenzo Tanges in Nigeria? Die Al-Nilein-Moschee in Sudan? Was wissen wir über die Architektur der Nubier oder die Pyramiden von Meroë? Man könnte die Aufzählung beliebig lang fortsetzen.
Im besten Geist der Aufklärung
Das Bild des afrikanischen Kontinents ist in vielen europäischen Ländern notorisch defizitär, um nicht zu sagen, verzerrt, unvollständig, oft geprägt von Ignoranz. Das gilt nicht nur für die postkolonialen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, über die gern pauschal geurteilt wird. Auch mit den vielgestaltigen Kulturen und Bauten Afrikas sind nur wenige vertraut. Eine Region, die hierzulande immer wieder mit negativen Schlagzeilen assoziiert und über die in Bildern von Krieg, Terror, Flucht, Armut, Hunger und Umsturz berichtet wird, sind die Staaten der Subsahara. Schon allein deshalb ist es ein großer Glücksfall, dass dem so oft in dunklen Farben gemalten Porträt ganz unterschiedlicher Länder und Städte nun auf dem Feld der Architektur jede Menge Facetten und Farben hinzugefügt werden. Philipp Meuser und Adil Dalbai ist es nicht nur gelungen, mit dem „Architectural Guide Sub-Saharan Africa“ eine großartige Übersicht über die Architektur der Region Subsahara-Afrika zusammenzustellen. Das faszinierende, staunenswert detailreiche Kompendium, das die beiden Architekten in jahrelanger Arbeit zusammengetragen haben, ist in bester aufklärerischer Tradition dazu angetan, Vorurteile abzubauen und Wissen zu vermitteln – über afrikanische Kulturen, alte und neue Bau-Traditionen, Materialien und Methoden, aber auch über politische Repräsentation und wirtschaftliche Entwicklung.
850 Bauwerke aus 49 Ländern
Allein schon der Umfang des Werks beeindruckt: In insgesamt sieben – farblich unterschiedlichen – Bänden werden auf insgesamt 3400 Seiten gemeinsam mit über 350 afrikanischen und europäischen Autor/innen 850 Bauwerke in 49 Ländern vorgestellt und über Länder, Bauweisen und aktuelle Entwicklungen informiert. Auf einen Einleitungsband, in dem mehrere Dutzend Autorinnen und Autoren ihre Analysen zur Architektur- und Baugeschichte, zu demografischen Herausforderungen, Disruptionen und urbanen Transformationsprozessen, zu Fragen der Identität, globalen und lokalen Perspektiven ausbreiten, folgen sechs, nach Regionen und Ländern geordnete Bände. Jedes Land ist anders, und jedem ist ein reich bebildertes Kapitel gewidmet. Wobei man sich immer wieder von Neuem bewusst machen sollte: In den Gebieten, die den gesamten afrikanischen Kontinent südlich der Sahara umfassen, leben eine Milliarde Menschen. Wenn von „Sub-Sahara“-Afrika die Rede ist, dann spricht man von etwa drei Viertel der Fläche des Kontinents – von Mauretanien bis zum Sudan, von Eritrea bis Südafrika, von Guineas bis Mozambique und Tansania.
Was könnte das sein, afrikanische Architektur?
Adil Dalbai, Livingstone Mukasa, Philipp Meuser, um nur ein Beispiel aus dem ersten Band herauszugreifen, bestätigen in ihrem Essay „Auf dem Weg zu einer Theorie der afrikanischen Architektur“ denn auch, die Verwendung des Begriffs „afrikanisch“ in architektonischen Beschreibungen sei „zuweilen absurd“. Oft werde „afrikanisch“ als „Marker für ein hochartifizielles hochkünstlerisches Pasticcio aus klischeehaften Elementen“ verwendet. Auch die Neigung, „vorindustrielle und kulturell undifferenzierte Vorstellungen von Afrika als immer primitiv und unveränderlich“ zu betonen, sei zu beobachten.
Afrika zwischen Tradition und Moderne
Um den geografischen und klimatischen Unterschieden und der kulturellen Vielfalt dieses riesigen Raumes auch nur annähernd gerecht zu werden, ist der Architekturführer in sechs geografische Abschnitte gegliedert. Innerhalb dieser Regionen werden aus jedem Land sowohl indigene Bauten als auch außergewöhnliche Gebäude verschiedener Typologien vorgestellt. Das Spektrum reicht von beeindruckenden Lehm-Moscheen in Mali über Inkunabeln der Kolonialmoderne in Eritrea bis zu spektakulären, aber weithin unbekannten Staatsbauten des unabhängigen Afrikas und innovativen zeitgenössischen Projekten. Dokumentiert wird der Reichtum des afrikanischen Bau-Erbes aller Architekturepochen, wobei man erfährt, dass die Architektur im postkolonialen Afrika bei der Suche nach Selbstbewusstsein und Identität eine wichtige Rolle im Dialog zwischen Tradition und Moderne spielt. Dass Infrastrukturprojekte wie Eisenbahnverbindungen und Flughäfen, aber auch Großbauten wie Sportarenen, deren Finanzierung oft durch Rohstofflieferungen und Schürfrechten abgegolten werden, das Entstehen neokolonialistischer Strukturen befördern, zeigen beispielsweise durch chinesische Investitionen entstandene Retortenstädte wie das in Angola 30 Kilometer südlich von Luanda gelegene Kilamba. Anders verhält es sich mit Sozialbauten, Schulen und Wohnprojekten. Sie belegen, dass sich auf dem Kontinent immer häufiger eigene Architektursprachen entwickeln, die mit der Kraft afrikanischer Kulturen auf neue Herausforderungen und sich wandelnde klimatische Bedingungen reagieren.
Potenziale, Ressourcen, Strategien
Soweit sich das nach stichprobenartiger Lektüre beurteilen lässt, verbindet der monumentale Guide zwei nur scheinbar gegensätzliche Zugänge miteinander: Einerseits werden urbane Strukturen und einzelne Bauten von lokaler Lehmarchitektur bis zu Ensembles des „Tropical Modernism“ vorgestellt. Andererseits werden – keineswegs nur im Einleitungsband – grundsätzliche Fragen der Architektur erörtert und behutsam versucht, theoretisch zu klären, was mit „afrikanischer“ Architektur gemeint sein könnte. Welche Rolle spielt die physisch gebaute Umwelt einerseits, welche ihre rituellen, spirituellen und nicht-materiellen Aspekte andererseits? Welche Potenziale, Ressourcen und Problemlösungsstrategien hält diese reichhaltige Baukultur bereit?
Mögen traditionelle Bauten in Afrika auch in der archaischen Schutzfunktion gegen Witterung, Kälte und wilde Tiere wurzeln und eine eigenständige Baugeschichte repräsentieren. In der vielstimmigen Erörterung, welche Elemente und Erbschaften sich in der Vielfalt afrikanischer Architektur mischen und wie sich ihre Stärken theoretisch herauspräparieren lassen, geht es um mehr als darum, welche Rolle regionale und lokale Unterschiede, klimatische Diversität und Heterogenität bei der Entwicklung einer „afrikanischen“ Architekturtheorie spielen. Es geht darum, was alles das zu einem globalen Verständnis von Architektur im 21. Jahrhundert beitragen kann. Nicht nur, weil sich hier viele architektonische Schichten mischen. Nicht nur, weil Mega-Städte wie Kinshasa oder Lagos in den Fokus des Interesses rücken. Nicht nur, weil sich die urbane Bevölkerung des subsaharischen Afrika Schätzungen zufolge in den nächsten 30 Jahren nahezu verdoppeln wird und es mehr als 400 Millionen Menschen in die Städte ziehen wird. Sondern weil die Architekturen und Kulturen auf diesem so lebendigen, vielfältigen und faszinierenden Kontinent jede Menge zur notwendigen Neuvermessung der Welt des Lebens in einer gebauten Umwelt beitragen können.
Architectural Guide Sub-Saharan Africa
hrsg. v. Philipp Meuser und Adil Dalbai
Texte Englisch
7 Bde. im Schuber, 3.412 S.
DOM publishers, Berlin 2021
ISBN 978-3-86922-400-8
148 Euro
Der Design Networking Hub
Der Design Networking Hub ist eine von der Stiftung Deutsches Design Museum ins Leben gerufene digitale Wissens- und Netzwerkplattform zur Unterstützung deutsch-kenianischer Kooperationsprojekte im Bereich Design.
Gefördert vom Auswärtigen Amt, ist es die Aufgabe dieses in seiner Entstehung befindlichen Design-Brückenkopfes, initiative Projekte aus den Bereichen Architektur und Design anzustoßen sowie Kreative beider Länder und Kontinente durch konkrete Unternehmungen nachhaltig miteinander zu vernetzen.
Um das Informationsangebot des Hubs maximal nutzer/innenorientiert zu gestalten, entwickelt zunächst eine Pilotgruppe aus fünf deutschen und fünf kenianischen Jungdesigner/innen und -architekt/innen in kleinen Teams neue Produkt-, und Geschäftsideen sowie gemeinnützige Konzepte in den Bereichen Mobilität, Wohnen und Digitalisierung.
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