How Will We Live Together? Mit dieser so einfachen wie grundlegenden Frage will Hauptkurator Hashim Sarkis auf der 17. Architekturbiennale in Venedig die Architektur in Zeiten von Artensterben, Klimakrise, Pandemie und sozialen Verwerfungen herausfordern.
Von hicklvesting.
Die Architekturbiennale in Venedig ist vom 22. Mai bis 21. November 2021 in den Giardini, im Arsenale, der ganzen Stadt und diesmal in vielen Fällen auch online zu sehen. Insgesamt präsentieren sich viele Inhalte der Biennale stärker akademisch: Architektur ist weniger in ihrer Formgebung im Fokus, stattdessen geht es um die neuen Herausforderungen des Anthropozäns, dem Zeitalter der Menschheit, die oftmals unsichtbar den Strukturen unserer Städte inhärent sind. So stehen Themen wie Biodiversität, Umweltschutz, Postkolonialismus und Rassismus auf der Agenda. Handfeste Überraschungen gab es bei den Verleihungen der diesjährigen Löwen.
Wer kann sich 2021 über die Löwen freuen?
Ausgezeichnet ist weder ein großer Architektenname noch einer der Länderpavillons in den Giardini, die meistens das Feld dominieren. Der Goldene Löwe geht an den Pavillon der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) mit der Ausstellung Wetland, kuratiert von Wael Al Awar und Kenichi Teramoto. Die – vor der Preisverleihung von der Berichterstattung weitgehend ignorierte – Ausstellung zeigt ein innovatives Baumaterial als nachhaltigen Ersatz für Zement. Letzterer ist Grundmaterial von Beton und gilt für heutige Architektur- und Infrastrukturprojekte weltweit noch als unumgänglich. Zement ist jedoch sehr energieintensiv und für circa acht Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Alternative Baustoffe sind also essenziell, wenn die Begrenzung der menschengemachten Klimaerwärmung auf zwei Grad Celsius gegenüber vorindustrieller Zeit gelingen soll. Konkret zeigt Wetland, wie die in den Sabkha-Salinen der VAE vorkommenden Salzverbindungen als erneuerbares Baumaterial dienen könnten. Statt des Rohstoffes Kalk, der bei der Herstellung von Zement viel CO2 freisetzt, schlägt die Forschungsgruppe Magnesiumoxid (MgO) vor. Dieses findet sich in der kristallisierten Schicht von Solebecken. Da die Emirate Meerwasserentsalzungsanlagen mit den weltweit drittgrößten Kapazitäten besitzen, liegt das Mineral in rauen Mengen vor. Was zuvor ein industrielles Abfallprodukt war, könnte bald das Bauen revolutionieren. Nachhaltig ist das nicht nur wegen des Recyclingaspekts, hinzukommt, dass MgO sogar CO2-negativ ist, denn es absorbiert das Treibhausgas für den Aufbau seiner strukturellen Stärke.
In der Ausstellung zu sehen ist ein raumgreifender, aus dem salzbasierten Material errichteter Prototyp. Er besteht aus Elementen, die sich visuell an Korallen orientieren und damit auch die ästhetischen Vorprägungen der Architektur ins Wanken bringen will. Außerdem werden in der Ausstellung die Rohstoffgewinnung und die Herstellung des Materials anschaulich gemacht. Begleitend sind Fotografien der Künstlerin Farah Al Qasimi zu sehen; sie zeigen die traditionellen Sabkha-Salinen, aber auch wie tief sich der Mensch mit der Moderne in die Natur eingeschrieben hat.
Auch Deutschland hat Grund zur Freude. Mit der Verleihung des Löwen für den besten Beitrag in der Hauptausstellung an das Berliner Architekturbüro raumlabor erhielten zwei der in gesellschaftlicher Hinsicht hierzulande engagiertesten Projekte der letzten Jahre endlich die verdiente internationale Anerkennung: Erstes Projekt ist die Floating University, ein temporärer Bau im Regenwasserrückhaltebecken des ehemaligen Flughafens Berlin-Tempelhof. In der nachhaltigen Struktur finden in den Sommermonaten verschiedene Veranstaltungen wie Lesungen, Workshops und Vorträge statt. Zweites Projekt ist das Haus der Statistik unweit des Alexanderplatzes ebenfalls in Berlin. Hier werden schon zum Abriss vorgesehene Plattenbauten aus DDR-Zeiten weitergenutzt und zukünftig durch geschickte Setzung mehrerer Neubauten gemeinschaftliche Freiflächen geschaffen. Modellhaft ist das Projekt, weil hier Verwaltung, landeseigene Unternehmen und Zivilgesellschaft eine Kooperationsgemeinschaft bilden, um gleichberechtigt die gemeinwohlorientierte Entwicklung vorantreiben.
Welche Pavillons lohnen außerdem den Besuch?
Der von Marianne Krogh und dem Kopenhagener Büro Lundgaard & Tranberg Architects kuratierte dänische Pavillon mit dem Motto Con-nect-ed-ness ist ein Laboratorium für ein neues Miteinander von Mensch und Ökosystem. In hohen hölzernen Regalen werden verschiedene Teepflanzen und Kräuter gezüchtet. Ein Becken im Zentrum des Pavillons fängt Regenwasser auf. Rohre und Schläuche durchziehen die Räume und versorgen die Grünpflanzen mit dem notwendigen Nass. So werden die Themen des Pavillons – die globalen Verbindungen, Wechselwirkungen und Kreislaufsysteme im Zeitalter des Anthropozäns – ganz bildlich dargestellt, die normalerweise hinter Wänden und unter Straßen verborgenen Infrastrukturen unserer Häuser und Städte quasi freigelegt. Außerdem schafft der Pavillon Raum für soziale Interaktion auf einer denkbar niedrigschwelligen Weise: Bei einer frisch zubereiteten Tasse Tee. Denn die angebauten Teepflanzen werden mit gereinigtem Regenwasser vor Ort zubereitet. Dänemark bietet damit ein zugleich visuell-sinnliches wie soziales Erlebnis.
Der österreichische Pavillon widmet sich den Auswirkungen der Digitalisierung und der kapitalistischen Plattformökonomie auf die Stadt. Plattform Austria schafft es, die verschiedenen Einflüsse von digital operierenden Unternehmen – von Lieferdiensten für Nahrung und Konsumgüter über Sharing-Angeboten für Mobilität und Dating-Apps bis hin zu den diversen Lifestyle-Produkten der „Digital Nomads“ – auf unsere urbanen Räume überzeugend darzulegen und die vereinzelt wahrgenommenen Phänomene in Beziehung zueinander zu bringen. Die Kuratoren Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer fassen sie unter dem Begriff Plattformurbanismus zusammen. Wer sich mehr darüber informieren will, sei – wie könnte es bei dem Thema anders sein – auf die Onlineangebote verwiesen, die sich sowohl auf der Website platform-austria.org als auch in den sozialen Netzwerken abrufen lassen.
Große Leere im deutschen Pavillon
Wer in erster Linie wegen des deutschen Beitrags, dieses Jahr kuratiert vom Team 2038 um Arno Brandlhuber, den Weg nach Venedig auf sich genommen hat, könnte enttäuscht werden. Denn der Pavillon ist vollkommen leer. Die Ausstellung 2038 – The New Serenity ist nur als Online-Version vor Ort über eine App auf dem Smartphone oder bequem per Tablet am Sofa zu Hause zu erleben. Grundidee ist ein spekulativer Rückblick aus dem Jahr 2038, der die Krisen der 2020er und 2030er Jahre Revue passieren lässt. Vorherrschend ist eine Stimmung der Gelassenheit (engl.: Serenity), denn alles ist gerade nochmal gut gegangen und die Welt hat sich zu einer besseren gewandelt. Auf 2038.xyz lassen sich Experten in Videos zu verschiedenen Themen unserer Zeit aus, wobei die eigentlich relevanten Inhalte ob der selbstironischen-optimistischen Art des Grundtenors mitunter an der Oberfläche hängen bleiben.
Weitere Empfehlungen und Erkundungen in der Stadt
Der US-Amerikanische Pavillon hat eine spektakuläre, vierstöckige Holzkonstruktion direkt vor dem Hauptzugang seines klassizistischen Gebäudes errichtet, die dieses fast vollständig verdeckt. Thema von American Framing der Kuratoren Paul Andersen und Paul Preissner ist der traditionelle Holzbau in Nordamerika. Obwohl bis heute 90 Prozent der Gebäude in den USA in dieser Form errichtet werden, bleibt er im architektonischen Diskurs zumeist ausgespart. Japan hat ein historisches, mehrfach umgebautes Holzhaus aus Tokio in seine Einzelteile zerlegt und präsentiert diese, chronologisch nach seiner Bauzeit auf dem Boden aufgereiht, als quasi-archäologische Stätte architektonischer Alltagskultur.
Wie immer erschöpft sich die Biennale nicht mit den Hauptausstellungen in den Giardini und dem Arsenale. Eine Vielzahl von Länderpavillons sind auch dieses Jahr wieder überall in der Stadt verteilt. Lohnenswert ist hier unter anderem der portugiesische Beitrag In Conflict unter der Kuration von depA architects nahe der Academia-Brücke. Er beleuchtet mehrere moderne Sozialbauprojekte des Landes aus der Mitte des 20. Jahrhunderts – und berichtet, wie diese heute unter dem Investitionsdruck vom Abriss bedroht. Der libanesische Pavillon A Roof for Silence in einer großen Lagerhalle am Giudecca-Kanal setzt sich mit der Explosion des Ammoniumnitrat-Silos im Hafen von Beirut im August 2020 auseinander, bei dem grosse Teile der Stadt zu Schaden kamen. Der traurige Anlass wird von Hala Wardé in einer eindringlich-poetischen Weise mit zerbrechlichen Glassskupturen und einem großen Raum der Stille aufgearbeitet – die Installation zeigt einen Weg aus den Ruinen und wie sich mit Kunst und Kreativität neue Kraft schöpfen lässt.
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