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Wie buchstabiert man Nachhaltigkeit? Sind wir blind geworden für einfache Lösungen? In dem Buch „Eine Art zu leben: Ballenberg Notizen“ lädt Rolf Fehlbaum zusammen mit namhaften Gestaltenden dazu ein, die Gebäude im Schweizer Freilichtmuseum genau zu betrachten. Liegen in der Einfachheit alpinen Bauens Keime für das Bauen der Zukunft?

Rezension von Thomas Wagner

Eine gerade Treppe, ein Platz für den Hund und ein paar Blumentöpfe wirken zusammen und schaffen ein einladendes Zuhause © Federica Zanco

Es ist eine Trivialität, dass Handwerk und Design fundamental verschieden sind, auch wenn individuelle und industrielle Produktionsweise sich hier und da berühren und überschneiden. Unterschiede deutlich wahrzunehmen, schärft jedenfalls den kritischen Blick aufs Übliche und Gewohnte, regt das Denken an und relativiert einen allzu selbstgefälligen Standpunkt. Die von Rolf Fehlbaum herausgegebenen „Ballenberg Notizen“ schaffen das mit überraschend leichter Hand. Dabei geht es in keinem Moment darum, das alpine, oft harte und entbehrungsreiche bäuerliche Leben als windstille Idylle wiederzuentdecken. Hier wird das Gewöhnliche nicht zum Maßstab einer neuen Bescheidenheit im urbanen Leben verklärt. Worum aber geht es?

Das 1978 eröffnete Freilichtmuseum Ballenberg liegt in Hofstetten im Berner Oberland. Auf dem 66 Hektar großen, zwischen Brienz und Meiringen über dem Aaretal gelegenen Gelände des gleichnamigen Ballenbergs wurden mehr als 100 originale historische Wohn- und Nebengebäude vom 14. bis zum 19. Jahrhundert aus allen Landesteilen der Schweiz zusammengetragen. Umringt von hohen Bergen, die auch im Sommer weiße Schneehäubchen zieren, erstrecken sich Felder, blühen Gärten und weiden einheimische Bauernhoftiere. Aus der Nähe grüßen Brienzersee, Brienzer Rothorn, Brünig-Pass und die Reichenbachfälle. Pro Jahr zieht das Freilichtmuseum während der Saison von Mitte April bis Ende Oktober im Schnitt rund 250.000 Besucher*innen aus aller Welt an. Das Buch, das Rolf Fehlbaum, Chairman Emeritus von Vitra, angeregt, herausgegeben und mit einem Vorwort versehen hat, ist das Ergebnis einer Reise des Designers Jasper Morrison, der Architekten David Saik und Tsuyoshi Tane und der Architektin Federica Zanco auf den Ballenberg.

Herz und Verstand müssen sehr offen sein, um aus einfachen Materialien Reichtum zu schaffen © Tsuyoshi Tane

„Wie viel näher am Leben ist ein Haus doch, wenn es vor Ort hergestellt wird.“                                                          – Jasper Morrison.


Dinge, die Teil einer vitalen Lebensform sind, so kärglich diese zuweilen auch erscheinen mag, verfügen über eine eigene Würde und Selbstverständlichkeit. Nutzloses, Überflüssiges, gar Unpraktisches hat in vielen dieser Bauten und ihrer Einrichtung, ob Hof, Scheune oder Schober, keine Bleibe. Vielleicht ist es das, wessen wir in diesem historischen Moment, da so vieles in Frage gestellt scheint, so vieles, an das wir uns (als Gattung und als Individuen) gewöhnt hatten, zu verschwinden droht: eine Ermutigung, dass es auch einfacher, bescheidener geht.

Entstanden sei die Idee zu einem Buch über den Ballenberg, so Fehlbaum, als er das Freilichtmuseum zusammen mit Federica Zanco, der Direktorin der Barragan Foundation, besucht habe. Es sollte ein Buch werden, „das Menschen mit ähnlichen Interessen anspricht und das zur Betrachtung von Dingen einlädt, denen man normalerweise wenig Beachtung schenkt. Dingen, die erst beim zweiten, genaueren Hinsehen ihre Schönheit und Funktionalität offenbaren.“ Ein bewusstes Wahrnehmen solle es fördern und dadurch auch den Blick für die Unstimmigkeiten unseres heutigen Bauens schärfen.

Zeichen des Lebens ©Jasper Morrison

Gelingen kann es, die von Gewohnheit verklebten Augen auszuwischen, so man einen Sinn für solche Betrachtungen hat. Wie anders ein solcher Blick die Dinge erschließt, zeigt sich schon an den Fotografien, daran, wie unprätentiös sie selbst das Einfache hervorkehren, und wie selbstverständlich sie auf die Buchseiten gesetzt sind, wo sie mit den kommentierenden Texten eine Einheit bilden. Kurz: Einfache Fotografien einfacher Dinge, durch sparsame Kommentare zum Leben erweckt: Federica Zanco (FZ), so Fehlbaum, gab „mit ihrem Blick fürs Detail und ihren lebendigen, unverstellten Fotografien“ die Richtung vor; Jasper Morrison (JM) fügte weitere Bilder und Notizen hinzu, lud David Saik (DS), einen in Berlin lebenden kanadischen Architekten ein, ebenso zu verfahren; und über Rolf Fehlbaum kam noch der japanische Architekt Tsuyoshi Tane (TT) auf den Ballenberg. Ergänzt wird das Panorama des genauen Hinsehens und Staunens hier und da durch Zitate von Christopher Alexander, Lina Bo Bardi, Charles Eames, Hassan Fathy, Sibyl Moholy-Nagy, Charlotte Perriand, Bernard Rudofsky und Minette de Silva.

© David Saik

Was fasziniert an den alten Häusern, verwitterten Fassaden und verwohnten Räumen? Wird das einfache Leben in bäuerlichen Verhältnissen und schlichten Gebäuden nicht doch verklärt? Reicht es zu, wie Fehlbaum darauf zu verweisen, die Autor*innen teilten „eine Faszination für die Einfachheit, Zweckmäßigkeit und funktionale Schönheit der materiellen Welt, in der die Landbevölkerung lebte“? Genügt es, von „funktionaler Schönheit“, von „der Beziehung zwischen Gestaltung, Form und Funktion“ zu sprechen – oder müsste der Akzent nicht deutlicher auf den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Lebensform liegen, die solche Architektur, solche Einrichtung hervorgebracht hat? Was bedeutet es, darüber begeistert zu sein, „wie angemessen diese Gebäude, die Innenräume und die Ausstattungen ihrem Zweck dienten“? Was folgt daraus für den Reflex auf die Gegenwart, wenn „Stilfragen“ tatsächlich keine Rolle spielten, nichts „Eindruck schinden“ sollte, Neues nicht erfunden wurde, um aufzufallen, „sondern weil es in der gegebenen Situation notwendig war“? Wichtig ist für Fehlbaum: Das „Ergebnis ist keinesfalls eine Architektur von trauriger, nur das Existenzminimum befriedigender Funktionalität, sondern vielmehr ein erfreulicher Ausdruck guter Arbeit.“

© Tsuyoshi Tane

„Mit der Zeit werden Möbel und Architektur eins. – Tsuyoshi Tane.


Hier ein simpler drehbarer Türöffner aus Holz, dort ein in die Wand eingelassenes Regal oder ein veritabler, gegen Wind und Laub abschirmender Türrahmen. Ebenso präzise wie einfach konstruierte Treppen, an die Hauswand angelehnte Sitzbände, überkragende Dächer, eine über einen Seilzug steuerbare Kaminklappe, funktionale Verzierungen, konstruktive Elemente, steinerne Fundamente und vieles mehr – hier lässt sich eine Lebenswelt entdecken, in der Material, Form und Zweck eine würdevolle Einheit bilden. Jedes Element und jedes Detail scheint erprobt, auf die geographischen und klimatischen Bedingungen abgestimmt und den wiederkehrenden Routinen und Arbeitsabläufen angepasst zu sein. Wodurch eine (je nach Gebäude mehr oder weniger einheitliche) Lebensform erkennbar wird, in der Ökonomie und Ästhetik eine vitale Einheit bilden. Wenn die Autor*innen beschreiben, was sie auf dem Ballenberg entdeckt haben, offenbaren sich wie von selbst die Schwächen aktuellen Bauens in einer Konsumgesellschaft – vom Material bis zur Abstimmung der Funktionen, vom Überfluss bis zur Kurzlebigkeit.

© David Saik, Federica Zanco

Ob Federica Zanco das konstruktive Verständnis und das ästhetische Geschick in der Verbindung von Stützbalken bewundert, Jasper Morrison eine leicht geschwungene Bank beschreibt, David Saik über den angestammten Platz der Spüle vor dem Fenster oder Tsuyoshi Tane über Rhythmus in der Architektur nachdenkt, ganz abhanden gekommen, das zeigt sich, ist der Sinn für das Einfache auch unsrer Gegenwart nicht. Schon unter den Modernen hatten viele auf Vereinfachung gesetzt, nicht nur, aber besonders was die Architektur in den Alpen angeht. Die Reihe ist so lang wie illuster, sie reicht von Le Corbusier und seinem kleinen Ferienhaus „Le Cabanon“, von Mies von der Rohe bis zu John Pawson, von einem Künstler wie Donald Judd bis zu Architekten wie Rudolf Olgiatti oder Gottfried Böhm, um nur einige zu erwähnen. Was heute von uniformer Investorenarchitektur in großem Maßstab verspielt wird, können einzelne Ausreißer nicht aufhalten. So klingen Slogans wie „Less is more“ inzwischen wie Werbesprüche, auch wenn sie in die richtige Richtung weisen. Im heroischen Gestus vieler Architekten, über Ort und Raum und Material zu gebieten, zeigen sich all die fatalen Ambivalenzen, die unsere Zeit mit ihren auf Komfort und Luxus geeichten Konsumentenmassen so heillos zerrissen machen.


„Der Tag beginnt, wenn man die Treppe hinuntersteigt – und endet, wenn man die Treppe hinaufsteigt – Tsuyoshi Tane.


„In das Erleben des Ballenberg“, notiert Fehlbaum, „mischt sich das Gefühl, etwas verloren zu haben. Aber was genau haben wir verloren? Ein Gemeinschaftsgefühl, Respekt vor der Natur, die allen gehört, die Gewissheit, einen Zufluchtsort zu haben und Schutz zu erhalten?“ Die Antwort auf den Verlust könne „nicht die Rückkehr zur traditionellen Stadt oder zum traditionellen Dorf“ sein, „vielmehr die Akzeptanz neuer Einschränkungen“. Einige erkunden die „Ballenberg Notizen“. Ohne erhobenen Zeigefinger erinnern sie an die einfachen und wesentlichen Dinge – des Bauens, des Lebens, der Zeit. Das zu erkennen, ist richtig und wichtig. Woran es freilich mangelt, ist der gesellschaftliche Wille, aus all dem konkrete Schlüsse zu ziehen. Wobei die Zukunft nicht allein durch technische, funktionale und effiziente Lösungen gewonnen werden kann. Schlichte und dauerhafte, das zeigt dieses Buch, verdanken sich einer Balance aus Zweckmäßigkeit und Schönheit. Anders gesagt: In einer Zeit, in der uns immer mehr Gegenstände als Black Boxes entgegentreten, trägt es zum Verständnis der Welt bei, wenn man nachvollziehen kann, wie ein Gebäude gebaut wurde, aus welchen Materialien und Elementen es besteht, wie es sich bewährt hat und wie es gealtert ist. „Schlichtheit“, bemerkt Tsuyoshi Tane, „überwindet Zeit und Kultur, und es zeigen sich die Spuren und der Geist des Handwerks.“

Eine Art zu leben. Ballenberg Notizen

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Rolf Fehlbaum

Fotografien und Texte von Jasper Morrison, David Saik, Tsuyoshi Tane, Federica Zanco und einem Beitrag von Beatrice Tobler
Design: Integral Lars Müller
Geb., 208 S., 168 Abb.,
Lars Müller Publishers, Zürich 2023
ISBN 978-3-03778-723-6, Deutsch
ISBN 978-3-03778-726-7, Englisch
30,00 Euro


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