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Archizoom, Alchimia, Memphis und weiter: Andrea Branzi hat in vielen Formationen der kritischen italienischen Designavantgarde mitgemischt. Ob als Designer oder Theoretiker, im Mainstream ist er nie mitgeschwommen. Nun ist Andrea Branzi mit 84 Jahren in Mailand gestorben.

Von Thomas Wagner

Andrea Branzi
Andrea Branzi © Friedman Benda und Andrea Branzi

Andrea Branzi schwamm nicht einfach mit im großen schillernden Schwarm der erfolgreichen italienischen Designer*innen des 20. Jahrhunderts. Zwar erprobte er sich und seine kritische Stellung zu Design und Architektur in diversen Gruppen (die widerständig, radikal und avantgardistisch auftraten) – und trotzdem: Nicht die kollektive Formation, er selbst gab sich und dem, was er gestaltete und formulierte, eine klare Richtung. Was oft bedeutete: Er schwamm voraus und gegen den Strom.

Anti-Design und Radikal Design

In Florenz, wo er am 30. November 1938 geboren wurde, hat Andrea Branzi Architektur studiert. Mitte der 1960er Jahre – in der Gesellschaft gärte es – betraten das italienische Anti-Design und das Radical Design die öffentliche Bühne. Es wurden Fragen gestellt. Zusammen mit Paolo Deganello, Gilberto Corretti und Massimo Morozzi, ebenfalls Universitätsassistenten, gründete Branzi 1966 die „Archizoom-Associati“. (Der Name setzte sich aus dem der britischen Architektengruppe „Archigram“ und dem der Zeitschrift „Zoom“ zusammen.) Die Gruppe machte mit Projekten wie der Stadtvision „No-Stop-City“ auf sich aufmerksam, einer fundamentalen, mit Ironie gewürzten Kritik am Städtebau der Architekturmoderne. Mit der Ausbreitung des Marktkapitalismus, so die These, habe die Stadt mehr und mehr die Gestalt eines in grober Weise funktionalen Systems angenommen – was als eine scheinbar bis in die Unendlichkeit fortlaufende, flexible architektonische Rasterkonstruktion in Form einer Ebene dargestellt wurde.

Wer kontrolliert die gebaute Umwelt?

Mittels einer kritischen Utopie sollte der Status quo in Frage gestellt, bewusst gemacht werden, wer Kontrolle über die gebaute Umwelt ausübt und welche Rolle das Design als konzeptionelles Instrument dabei spielt. Ist es nicht länger die Architektur, die eine Stadt prägt, sondern die Waren, die in ihr zirkulieren? Entwirft, wer neue Waren entwirft, neue urbane Strukturen und Territorien? „Die wahre Revolution in der radikalen Architektur“, so Branzi, „ist die Revolution des Kitsch: massenhafter Kulturkonsum, Pop Art, industriell-kommerzielle Sprache. Die Idee ist, die industrielle Komponente der modernen Architektur ins Extrem zu steigern und damit zu radikalisieren.“

Auch was Möbel und Objekte angeht, attackierte Archizoom lustvoll die Grenzen des herrschenden Geschmacks, erprobte neue Materialien und prangerte den Narzissmus akademischer Vorbilder an. Wie sich der vorherrschende Funktionalismus (nicht nur Mies van der Rohes) wirkungsvoll persiflieren ließ, führt noch heute der objekthafte Lounge-Chair „Mies“ von 1969 vor. 1974 löste sich Archizoom wieder auf. Es dauerte freilich nicht lang, bis Branzi abermals gegen den Stachel des Funktionalismus löckte: 1975 gründete er gemeinsam mit Ettore Sottsass und Alessandro Mendini die Organisation CDM (Consulenti Design Milano), die sich mit neuen Materialien und Technologien beschäftigte. Bei „Studio Alchimia“ (das sich selbst als „postradikales Diskussionsforum“ verstand) mischte er ebenso eine Weile mit wie bei Memphis, dem er durch seine Freundschaft mit Ettore Sottsass verbunden war.

Goccia © Rotaliana

Ein Designer mit Haltung

Entscheidend bei alledem war: Branzi wirkte weniger durch von ihm gestaltete Objekte als durch seine Haltung zum Design als Movens und Faktor in einer vom Kapitalismus geprägten Gesellschaft. Er stellte etwa die These auf, dass die kapitalistische Kultur in den 1980er Jahren in eine Krise geraten sei. Lange bevor der Schwarm bemerkte, dass diese Kultur – mit, wie heute alle sehen können, bedrohlichen Folgen – in die falsche Richtung unterwegs war, prognostizierte Branzi das Ende des Fortschrittsmythos, der Zeit in eine lineare Funktion verwandelt, in der sich alles ständig verändert – oder verändern muss. Dabei war sich Branzi darüber im Klaren, dass jeder Aufbruch, jede Bewegung, will sie über den Tag hinauswirken, einer publizistischen Unterfütterung bedarf. Also initiierte er1982 die Gründung der „Domus Academy“ (die er bis 1987 als Vizepräsident leitete), gab von 1983 bis 1987 die Zeitschrift „Modo“ heraus und publizierte zahlreiche Bücher, Essays und Artikel zum Thema Design, Städtebau und Architektur. Zudem lehrte Branzi, der 1987 für sein Lebenswerk als Designer und Theoretiker mit dem Compasso d’Oro geehrt wurde, bis 2009 als Professor am Mailänder Polytechnikum.

Wider den Funktionalismus

Statt die Stadt nur als funktionales System zu verstehen, die in einzelne Zonen zerfällt, die dem Wohnen, Arbeiten, dem Einkaufen und der Freizeit dienen, müsse die Stadt, so Branzi, als Ensemble menschlicher Beziehungen gedacht werden. Von Hightech-Favelas sprach er, weil die Stadt aus seiner Perspektive ständig in Bewegung sei wie ein Lebewesen und sich nicht kontrollieren lasse. Branzi dachte dabei an die Dynamik außereuropäische Städte, an Orte, die eine Symbiose aus urbanen und landwirtschaftlichen Räumen darstellen, sich mit den Jahreszeiten verändern und sich nachhaltig auf das Klima auswirken. Nicht das Perfekte weise in die Zukunft; vielmehr gelte es, das Bruchstückhafte zu akzeptieren.

Mit Ironie gegen Domestizierung

Mitte der 1980er Jahre veränderte sich Branzis Designansatz. Die Elemente einer erkennbar postmodernen Ästhetik traten in den Hintergrund zugunsten eines „Neoprimitivismus“, der natürliche und künstliche Elemente mischt. Gemeinsam mit seiner Frau Nicoletta Morozzi entstand eine Serie von Kleidungsstücken und Einrichtungsgegenständen mit dem Titel „Animali Domestici“. Auch beim Nachdenken über Innenräume und Möbel als Landschaften schwang freilich noch immer jene postmoderne Ironie mit, aus der sich bei Branzi eine Kritik des Bestehenden speiste, die weiter reicht als vieles, was aktuell im Design verhandelt wird. Möbel, die erkennbar industrielle und natürliche Formen und Materialien kombinieren, als Haustiere zu bezeichnen – darin verbirgt sich mehr als eine Metapher für die besondere Beziehung, die wir zur Natur und den Dingen unterhalten.

Branzi hat sich zeitlebens gegen jede Art der Domestizierung zur Wehr gesetzt, wohl wissend, dass diese das Haus des Menschen und seine Städte längst beherrscht. Er hat nie mit der Gestaltung kritischer Fragen aufgehört, und er wusste, dass Designer*innen, wollen sie gesellschaftlich relevant sein, sich nicht nur daran orientieren dürfen, was ihnen die Industrie aufträgt, sondern auch nachdenkliche, kritische und aggressive Dinge gestalten müssen. Am 9. Oktober ist Andrea Branzi in Mailand gestorben.

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