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Otl Aicher. Foto: Timm Rautert

Er war Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung in Ulm, hat das Corporate Design der Olympischen Spiele 1972 in München entworfen und das Erscheinungsbild von Marken wie Braun, Erco, Bulthaup und Lufthansa geprägt. Der Kommunikationsdesigner, Lehrer und Autor Otl Aicher wäre am 13. Mai 100 Jahre alt geworden.

Von Thomas Wagner.

Er war überzeugt: Was durch Nachdenken erkannt worden ist, muss im Handeln manifest werden. Otl Aicher, der am 13. Mai 100, Jahre alt geworden wäre, wollte die vielfach erstarrten Verhältnisse aufbrechen. Menschen und Dinge sollten für sich selbst stehen und aus sich heraus wirken können, unabhängig von Macht, Interessen, Status. Es war schwer für ihn, in der von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungenen Gesellschaft zu sich selbst zu finden. In seinen Erinnerungen „innenseiten des krieges“ notierte er später:

„für einen antifaschisten war ich zu jung. kommunisten gab es keine mehr, keine sozialdemokraten, kein zentrum. die parteien waren verboten worden, als ich elf jahre alt war, und ich hatte keinen vater oder großvater, in dessen bücherregal ich einen liebknecht, einen kautsky, einen bernstein, einen rathenau oder stresemann hätte finden können. wir lebten in einer quarantäne, auch im geschichtsunterricht, auch im religionsunterricht wucherte das neue vokabular von volk, rasse und führer und die neue nomenklatur hieß reich, kampf und vorsehung.“

Aus der Quarantäne herauskommen

Aus solch willkürlich verhängter Quarantäne heraus und niemals wieder in eine hinein zu kommen, darauf kam es ihm an. Es half, den Kopf durchzulüften, frei zu denken und zu handeln. Konsequent hat er sich einer Einberufung entzogen, jede Aufstiegsmöglichkeit in der Wehrmacht abgelehnt und die Familie Scholl unterstützt, als Hans und Sophie, mit denen er eng befreundet war, 1943 wegen ihrer Mitgliedschaft in der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ verurteilt und hingerichtet wurden. Anfang 1945 desertierte er und versteckte sich bei den Scholls in Ewattingen. Eine Neugestaltung Deutschlands im Geiste von Hans und Sophie wurde ihm zur Lebensaufgabe. Kaum war der Krieg zu Ende, gründete Otl Aicher gemeinsam mit seiner späteren Frau Inge Scholl, der ältesten Schwester von Hans und Sophie, 1946 die Ulmer Volkshochschule. Wenige Jahre später, 1953, waren beide dann maßgeblich an der Gründung der Ulmer Hochschule für Gestaltung beteiligt. Was im gerafften Rückblick folgerichtig erscheint, musste im Gehen Schritt für Schritt mühsam gedacht, erkämpft, gestaltet und erlitten werden.

Hier denkt einer eigenständig

Otl Aicher, geboren am 13. Mai 1922 in Ulm, gestorben am 1. September 1991 im bayerischen Günzburg, hat immer auch über Texte gewirkt, die er aus praktischen Gründen in konsequenter Kleinschreibung verfasste. Wer sie heute liest, dem drängt sich, unabhängig vom Thema, der Eindruck auf: Hier ist einer am Werk, der sich nicht davon beeindrucken lässt, was üblicherweise für zutreffend und für richtig gehalten wird. Hier denkt einer eigenständig, prüft selbst, was ihm einleuchtet, worum es geht, was weiterführt. So viel Unbequemlichkeit musste aus Sicht der Angepassten eigensinnig, gar verschroben wirken. Ein Beispiel: 1984, als das Automobil hundert wird, verfasst Aicher eine „schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter“. Obwohl selbst einer, kritisiert er die Ideologie, die das Auto im Design, aber auch in der Gesellschaft prägt – vom Cw-wert als „maß der windschlüpfigkeit“ über Chrom als „heiligenschein der autos“ bis zur Höchstgeschwindigkeit als „hauptargument der automobilwerbung“.

Sich um das Auto als Auto kümmern

Auch für ihn hat das Auto „unbestreitbar seine vorzüge“, verursacht aber auch jede Menge Probleme. Seine Analyse nimmt vieles vorweg, was heute einzutreten beginnt. Die Veränderung beginnt beim Bankangestellten, „der zuhause bleibt, sich um seine kinder kümmert“ – und sein Auto meistens in der Garage lässt, weil er für seinen Seelenfrieden lieber mit dem Fahrrad fährt. Ironisch verweist Aicher auf die Folgen, die drohen:

„die automobilbranche könnte stagnieren, und würden gar mehrere so denken und auch noch so handeln, die branche würde schrumpfen. es müßte ja nicht gleich auf einen verzicht aufs auto hinauslaufen, wenn man das bedürfnis nach höchstgeschwindigkeit verkommen läßt, doch es würde bedeuten, da man mit schwächeren autos, mit kleineren zurechtkäme, deren werte und maße durch gesunden menschenverstand bestimmt sind und nicht durch aufgestaute aggressionen. man würde es weniger oft fahren und es benutzen wie ein normales anderes kulturgut auch.“

Das ist typisch für Aichers Vorstellung von Design: Die Dinge nehmen und nutzen, wie sie frei von allen ideologischen Fesseln sind. Woraus folgt: „wer sich um das auto als auto kümmert, ist ein designer. wer sich um seine assoziation kümmert, ist ein stylist. man kann ein auto bauen, damit es ein richtiges auto ist, oder man kann es bauen, damit es auf etwas verweist.“

Marken, Logos, Corporate Design und mehr

Hochschulmitgründer, Lehrer, Autor, Kommunikationsdesigner, Typograf, streitbarer Geist – Otl Aicher war so vielseitig und hat so viele Projekte realisiert, dass man sie alle hier nicht einmal aufzählen kann. Sicher ist: Über das Corporate Design vieler bekannter Marken hat er das öffentliche Erscheinungsbild der BRD mitgeprägt. Und doch steht er für sehr viel mehr als für Logos und Corporate Designs von Firmen wie Braun, Bulthaup, Erco, FSB, Lufthansa, Sparkasse und ZDF. Zwei Projekte ragen heraus: die Gründung der Hochschule für Gestaltung Ulm gemeinsam mit seiner Frau Inge Scholl-Aicher und sein dortiges Engagement; und das Corporate Design der Olympischen Spiele 1972 in München. „mit Farben kann man Politik machen“, hat Aicher einmal gesagt, als er am Erscheinungsbild der Olympiade arbeitete. Die Farben, die er auswählte, waren ganz bewusst nicht jene der Macht. Ein Grund, weshalb es seinem Design in Verbindung mit Günter Behnischs Zirkuszelt-Architektur gelang, in München eine heitere Atmosphäre zu schaffen. So prägnant, so farbenfroh und so einprägsam geriet das Erscheinungsbild (samt Maskottchen „Olympia Waldi“), dass seine Grafik zum Zeichen für die Dynamik einer neuen Zeit wurde.

Otl Aicher und Mitarbeitende. Erco-Piktogramme 1976. © Kai Alexander Gehrmann-Berlin (zum Vergrößern anklicken)

Die HfG Ulm und die neue Alltagskultur

Auch als es um den Namen und die Ausrichtung der Ulmer Hochschule ging, blickte Aicher nicht zurück: „natürlich war uns damals bewußt, welche kulturpolitische aura eine schule bekäme, die sich ‚bauhaus ulm‘ nennen würde. aber ‚ansehen‘ war eine eher negativ besetzte vokabel. wir wollten machen, was in der sache richtig war, ohne auf öffentliche wirkung und anerkennung zu spekulieren. und unsere absicht war, kein zweites bauhaus zu machen, keine wiederholung. wir wollten uns von ihm absetzen, bewußt.“ Nicht die Kunst sollte im Vordergrund stehen, es sollte gezeigt werden, „daß kultur heute das leben insgesamt zum thema haben müsse“. Im herkömmlichen Kulturbetrieb sah Aicher einen Trick, auf den man nicht hereinfallen dürfe: „kunst wird großgeschrieben von denen, die am schund verdienen. ewige werte werden von denen verkündet, die bei ihrem schmutzigen geschäft nicht ertappt werden wollen. diesen idealismus wollten wir nicht mitmachen. kultur sollte sich der wirklichkeit zuwenden.“

Gegenkunst und Zivilisationsarbeit

Eine Umkehr schien nötig: „damals in ulm mußten wir zurück zu den sachen, zu den dingen, zu den produkten, zur straße, zum alltag, zu den menschen. wir mußten umkehren. es ging nicht etwa um eine ausweitung der kunst in die alltäglichkeit, in die anwendung. es ging um eine gegenkunst, um zivilisationsarbeit, um zivilisationskultur.“ Dass sich der von manchem als messianisch, als sektiererisch empfundene Aufbruchsgeist der Gründerinnen und Gründer auf Dozierende und Studierende übertrug, ist bis heute Teil des weltweiten Rufs der HfG. Es ging ja um mehr als Kunst und Design. Nach dem schockierenden Zivilisationsbruch ging es um nicht weniger als die Neugestaltung Deutschlands, um den Aufbau einer anderen Kultur. Im konservativen Klima der 1950er-Jahre gegen ein muffiges Neo-Biedermeier und für eine sachbezogene, offene und demokratische Kultur der Dinge, für soziale und kulturelle Verantwortung einzutreten, konnte kein Zuckerschlecken sein.

Rotis, das Zentrum im Abseits

Als die farbigen Olympiafahnen eingeholt waren und er sein Büro in München aufgegeben hatte, zog Aicher sich – er war jetzt 50 und bekannt – ins Allgäu zurück. In einer ehemaligen Mühle in Rotis, zwischen Memmingen, Kempten und Leutkirch, organisierte er seinen Lebens- und Arbeitszusammenhang neu. Was Marfa/Texas für Donald Judd, das ist Rotis für Aicher gewesen, ein Refugium und privater Atelier-Campus, eine Mischung aus Landgut, Kloster und Adelsresidenz; sein „Zentrum im Abseits“. Hier findet künftig, wie es in der Biografie von Eva Moser heißt, „gehobene Betriebsberatung durch Design“ statt.

Waldi © International Olympic Committee
Otl Aicher und Mitarbeiter. Olympische Spiele 1972 München Entwurf 1970-71. © Florian Aicher HfG-Archiv – Museum Ulm (zum Vergrößern anklicken)

Eine Stadt in Schwarzweiß

Zu Aichers schönsten grafischen Arbeiten gehört das Erscheinungsbild der ehemaligen Freien Reichsstadt Isny, für die er zwischen 1977 und 1982 ganze 136 Motive in quadratischem Format entworfen hat. Ob es mal die markanten Tore und Türme, mal die Wiesen und Wälder der Landschaft und mal die Tiere der Umgebung sind: wie souverän Aicher alle Elemente, die ihm wesentlich erschienen, in charakteristische, konsequent schwarzweiß gehaltene Grafiken übersetzt hat, offenbart seine ganze Meisterschaft. Man sieht mit einem Blick, wie intensiv die Sonne über der Silhouette der Berge stahlt, welche Strenge Fichten und Tannen dem Wald verordnen, wie ein Fuchs zwischen Baumstämmen dahinschleicht. In den gezeichneten Anekdoten bestehen Natur und Kultur friedlich nebeneinander, verbindet sich die Wärme menschlicher Zuneigung mit der Sachlichkeit der Darstellung.

Otl Aicher Bildzeichen Isny Türme und Bäume.
Otl Aicher Bildzeichen Isny Schlafender Fuchs.
Otl Aicher Bildzeichen Isny Markt.

Nutzungsrecht Stadt Isny / Isny Marketing GmbH, Urheberrecht Florian Aicher (zum Vergrößern anklicken)

In der Gefahr hilft Design

Was Aicher zutiefst widerstrebte, war ein Denken ohne Konsequenz. Unter anderem das macht seine Perspektive heute so aktuell. Bevor Design offen kritisch auftrat und eine ökologische Bewegung politisch an Profil gewann, machte er die Gefährdung einer in Kultur und Natur zerfallenen Welt kenntlich. Sein Gegenprogramm: Das instrumentelle Denken wieder an die Sinne heranführen, die Ratio in das körperliche Beziehungsfeld aus Sehen und Machen zurückholen. Was bedeuten Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit in der Konsumgesellschaft? Wie lassen sich die Dinge des Alltags gestalten, ohne zur Verödung oder Zerstörung der Welt und der menschlichen Beziehungen beizutragen? Für Aicher kann das nur gelingen, wenn sich ein anderes Verhältnis zum Machen etabliert. Etwas machen ist für ihn vor allem ein „selbst zu verantwortendes tun“ an dem „jemand mit konzept, entwurf, ausführung und überprüfung beteiligt ist“. Wer etwas entwirft, muss sich an die Sache halten, auf Fakten zurückgreifen, aber auch neue Denkräume eröffnen: „er zählt die erbsen und reißt perspektiven auf. er berechnet und eröffnet landschaften der möglichkeiten. im entwerfen kommt der mensch zu sich selbst. anders bleibt er beamter.“

Soll eine andere Kultur geschaffen werden, ist vor allem anderen das Design gefragt. Ein Design, das kritisch ist, das, was üblich ist, in Frage stellt, das an die Wurzeln rührt und sie aufdeckt. Keines, das „die oberflächen der oft oberflächlichen dinge noch bunter und attraktiver“ macht. Im Machen liegt für Aicher der Beginn und der Schlüssel zu Veränderungen, auch wenn sich in seine späten Texten Skepsis mengt: „der heutige mensch als produkt seiner kultur“, heißt es in „analog und digital“, „ist ein denkender und konsumierender mensch. seine fähigkeit, etwas zu machen, seine fähigkeit, etwas zu entwerfen, bildet sich zurück. er wird passiv, und seine aktivitäten verkümmern. die maschine, der wir unser denken anvertrauen, verlangt, daß wir uns nach dem bild der maschine verhalten.“


Foto: Timm Rautert

otl aicher 100

Mit dem Launch von otlaicher.de und einer Veranstaltung in der Akademie der Künste würdigt das IDZ Berlin am 13. Mai einen großen Gestalter: Otl Aicher, dessen Geburtstag sich an diesem Datum zum hundertsten Mal jährt.

Zur Veranstaltungsreihe


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Otl Aicher 100 Jahre 100 Plakate: Im HfG-Archiv

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