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Sie sind reduziert, spartanisch – quasi die Underdogs des Möbeldesigns: Hocker. Zu den Klassikern dieses Genres zählt unbestritten der „Stool 60“, den Alvar Aalto vor 90 Jahren entworfen hat. Zum Jubiläum haben Formafantasma eine Version vorgestellt, die Fehler im Holz nutzt, um ein nachhaltiges Rohstoffmanagement zu betonen.

Von Thomas Wagner

Hocker über Hocker: Vintage-Exemplare von Alvar Aaltos „Stool 60“ bei Artek 2nd Cycle in Helsinki, Foto: Thomas Wagner

Hocken ist nicht sitzen. Wer hockt, kauert in mehr oder weniger gekrümmter Haltung. Allein die eigene, von keiner Lehne unterstützte Körperspannung sorgt für eine aufrechte Haltung, ob auf einem Stein oder einem Hocker. Gern wird dem Hockenden ein Übermaß an Statik unterstellt: Wer hocken bleibe (nicht nur in der Schule), der komme nicht vom Fleck. Weshalb Aktivitätsjunkies friedliche Stuben- und Ofenhocker notorisch verachten. Was die Designaufgabe angeht, so sind die für ein zivilisiertes Hocken gestalteten Möbel jedenfalls nicht einfach Stühle ohne Lehne. Unter Möbeldesigner*innen kursiert die Vorstellung, einen Stuhl zu entwerfen bedeute, in einer Königsdisziplin anzutreten; die gestalterischen Möglichkeiten seien begrenzt, die schon realisierten Lösungen Legion. Das ist bei Hockern kaum anders, wobei der gestalterische Reiz, mit minimalen Mitteln ein funktionales und ästhetisches Maximum zu erreichen, vermutlich noch größer ist.

Underdogs des Möbeldesigns

Reiz hin, Königsdisziplin her – Hocker werden oft wie Underdogs des Möbeldesigns betrachtet. An bekannten Modellen herrscht gleichwohl kein Mangel. Auch einige neue Hocker, etwa Steffen Kehrles „ADD Stool“ für Stattmann, haben sich in den letzten Jahren innerhalb der Typologie an einer originellen Interpretation versucht. Gerade hat Fritz Hansen ein von Cecilie Manz entworfenes Exemplar mit dem Namen „Taburet“ vorgestellt: Der aus FSC-zertifiziertem Massivholz gefertigte Hocker folgt dem Prinzip einer an der Hinterseite abgerundeten und an zwei Seiten offenen Kiste – ausgewogen in den Dimensionen und handwerklich gefertigt. Ob eine Sitzgelegenheit, ein Beistelltisch oder ein Tritt gebraucht wird, ein Hocker ist rasch zur Hand. Zu den Klassiker gehört Max Bills „Ulmer Hocker“ ebenso wie die aus Nussbaum gedrechselten Exemplare der Eames, der massive E15-„Backenzahn“ von Philipp Mainzer, der an einen Melkschemel erinnernde „Tabouret Berger“ von Charlotte Perriand und der schlichte Eiermann-Hocker „S 38 S/1“. Nicht zu vergessen der „Butterfly Stool“ von Sori Yanagi sowie „Sella“ und „Mezzadro“ der Gebrüder Castiglioni.

Rechtwinkelig gebogene Beine fabrizieren

Ein anderer berühmter Klassiker feiert in diesem Jahr 90. Geburtstag: Alvar Aaltos „Stool 60“. In Aaltos Resonanzräumen bildet der dreibeinige Hocker aus Birkenholz fast so etwas wie die Basiseinheit seiner Gestaltungsgrammatik. Hinzu kommt: Aalto war ein Meister des Details, der flexibel mit standardisierten Prozessen umgegangen ist. 24 Arbeitsschritte braucht es in der Artek-Fabrik in der Nähe von Turku, bis aus dem Stamm einer finnischen Birke der L-förmige Fuß für einen „Stool 60“ wird. Um die typischen Beine herzustellen (früher wurde von Hand gebogen), werden an einer Seite mehrere Schlitze in ein Kantholz gesägt, bündig mit Furnierstreifen ausgefüllt und, versehen mit Leim, mittels Holzformen und Hitze rechtwinklig gebogen. Nach sechs Minuten ist ein Satz aus mehreren Beinen in Form gebracht, wie sie für den berühmten Hocker, aber auch für Stühle und Tische verwendet werden.

Das Prinzip, nachdem die Beine hergestellt werden, Foto: Thomas Wagner

Artek

Entworfen hat Aalto den „Stool 60“ 1933 für die Bestuhlung der Bibliothek in Viipuri (heute in Russland). Trotz zahlreicher Kopien wurde der Hocker seitdem zum Hauptexportschlager von Artek, 1935 gegründet von Alvar Aalto, seiner Frau Aino, dem Kunsthistoriker Nils-Gustav Hahl und der Industriellengattin, Kunstsammlerin und Kunstmäzenin Maire Gullichsen. Gründe, einen eigenen Vertrieb aufzubauen, gab es viele: Es galt, sich bei der Ausstattung eigener Bauten von anderen Herstellern unabhängig zu machen, den Vertrieb von Aaltos Möbeln und Glaswaren selbst in die Hand zu nehmen, und, das darf nicht vergessen werden, die moderne Wohnkultur zu fördern durch Veranstaltungen und Ausstellungen sowie die Herausgabe von Publikationen und einer Fachzeitschrift. Der Name war Programm: Artek setzt sich zusammen aus „art“ (Kunst) und finnisch „teknologia“ (Technik), worin sich, ganz im Sinne von Bauhaus und International Style, Aaltos Wunsch manifestierte, Kunst, Technik und Funktion im Geist einer neuen Lebensweise eins werden zu lassen.

It‘s not a bug, it‘s a feature

Zum Jubiläum des „Stool 60“ hat Artek zusammen mit dem italienischen Designstudio Formafantasma eine neue Version des Klassikers aus „Wildbirke“ präsentiert, die einen nachhaltigeren und verantwortungsvolleren Einsatz von Holz fördern soll. Die Variante „Villi“ (was auf Finnisch „wild“ bedeutet) zeigt die natürlichen Eigenschaften des Holzes – und zelebriert bewusst die Qualität des Unvollkommenen. Zudem soll die Herstellung bei Artek noch nachhaltiger werden, was sich auch daran zeigt, dass die Firma seit kurzem auf alle Hocker 60 eine lebenslange Garantie gibt. Mit ihren Versionen aus Holz, das regulär nicht für die Produktion des Hockers verwendet wird, bestätigen Formafantasma einen Trend: Als forschungsbasiertes Designstudio entwerfen Andrea Trimarchi und Simone Farresin bewusst nicht nur Produkte für internationale Hersteller; in Lehraufträgen, Forschungsinitiativen und Ausstellungen wie „Cambio“ und „Oltre Terra. Why Wool Matters“ thematisieren sie die Grenzen zwischen Design und natürlicher Umwelt, untersuchen Materiallieferketten und deren (nachteilige) Folgen – sowie das Potenzial des Designs, transformative Prozesse anzustoßen und zu gestalten.

Formafantasma, Foto: Simona Pavan
Aus Wildbirke: Artek Stool 60 Villi

Die Initiative passt gut zu dem Ansatz von Aino und Alvar Aalto, aus einheimischem Holz eine Designalternative zur Maschinenästhetik gebogener Stahlrohre zu entwickeln. Alvar Aalto, so Formafantasma, habe begonnen, mit den Grenzen und Möglichkeiten des lokalen Kontextes zu arbeiten: „Die Technologie und die Techniken, die er entwickelte, stammten aus dem Wald.“ Auch heute noch werden mehr als 80 % der Artek-Möbel aus 50 bis 80 Jahre alten einheimischen Birken hergestellt, die in der Nähe der Fabrik angebaut, gefällt und zum Trocknen gelagert werden. Nach einem geflügelten Wort aus der Tech-Szene präsentieren sich die „wilden“ Exemplare nach dem Motto: „It‘s not a bug, it‘s a feature“. Fehler im Holz wie Astlöcher und Fehlstellen, Insektenspuren oder dunkleres Kernholz werden weder entfernt noch verborgen; statt als Fehler, werden sie als sichtbare Zeichen einer nachhaltigen und naturverbundenen Kultur des Authentischen vorgezeigt – jeder Hocker ein Unikat. Die „Wildbirke“ wird nicht nur beim „Stool 60 Villi“ und seinen vier limitierten Varianten „Bark“, „Core“, „Knot“ und „Trail“ eingesetzt (einige sind bereits ausverkauft), sie soll künftig im gesamten Sortiment vorkommen.


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